Methodenvielfalt in der Kurzzeit-Psychotherapie bei akuten und chronischen Schmerzen

Erscheinungsjahr:
2008
Autor/Autorin:

Milton H. Erickson, der Begründer der modernen Hypnotherapie, bescherte einer Patientin mit schwersten chronischen Schmerzen momentan weitgehende Schmerzfreiheit, indem er sie aufforderte, sich vorzustellen, ein seit Tagen ausgehungerter Tiger käme soeben zur Praxistür herein.

Hypnotherapeuten verschaffen Linderung, indem sie die Schmerzpatienten ihre Schmerzen prozentual aufteilen lassen in erinnerten, erwarteten, befürchteten, stechenden, stumpfen, ziehenden, bohrenden, erträglichen, und so weiter Schmerz. Ich selbst erlebte mich trotz eines Peridontalabszesses weitgehend schmerzfrei, solange ich mich beim Skifahren auf die Buckel der Piste und meine Schwünge konzentrierte.

Diese Anektoten machen deutlich: Die Intensität erlebter Schmerzen ist nicht immer und unbedingt linear mit auslösenden Ursachen zu korrelieren. Vielmehr hängt das Schmerzerleben von einer Fülle subjektiver Faktoren ab und ist somit psychotherapeutischer Behandlung zugängig. Dabei kann man im Einzelfall Schmerzzustände durch Integration einer Vielfalt von Methoden aus verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen in erstaunlichem Ausmaß günstig beeinflussen. Das soll im Folgenden durch zwei Fallbeispiele dargestellt werden.

1. Fall: Migräne
Es sollte inzwischen lehrbuchreifes ärztliches Allgemeinwissen sein, dass die Migräne eine psychosomatische Erkrankung ist; das heißt, sie ist somatisierter Ausdruck eines meist in früher Kindheit konstellierten seelischen Konfliktes [1], der durch in der Körperhaltung eingefleischte Stressmuster in die Gegenwart übertragen wird [2].
Erste persönliche Berührung mit dem Krankheitsbild der Migräne hatte ich durch die Behandlung der Ehefrau eines Kollegen. Sie bekam immer dann einen akuten Anfall, wenn der Ehemann nach längerer Abwesenheit im entfernten Krankenhaus zum Wochenende nach Hause zurückkehrte, wonach sie sich eigentlich sehnte. Wie sich im therapeutischen Gespräch herausstellte, wollte sie von ihm zunächst nur (mütterliche) Nähe und Geborgenheit, ohne gleich sexuell zur Verfügung stehen zu müssen [3]. Ihre Unfähigkeit, sich bewusst zu verweigern, machte ihr das entsprechende Kopfzerbrechen. Durch die Migräne konnte sie zwar den Mann fernhalten, doch sie wiederholte im Rückzug auch den Verlust von Geborgenheit und Nähe. Der Ehemann bemerkte zunächst die “ungeheure” Tapferkeit seiner Frau, verstand dann den Konflikt und ermutigte sie schließlich erfolgreich, sich an ihm festzuhalten (wie ein Kind an seiner Mutter) und zu jammern, wodurch sich der Schmerz regelmäßig lösen ließ. Die Erinnerung an diese Episode brachte mich später auf die Idee, die Lösung von Spannung psychotherapeutisch zu induzieren.

Kupierung eines akuten Anfalls
In meinen Selbsterfahrungsgruppen berichtet die Person mit einem Migräneanfall (P) von ihren Kopfschmerzen in der Regel erst in der Schlussrunde vor Beendigung einer Gruppensitzung. Ich frage dann: “Wollen Sie die Kopfschmerzen loswerden?” Wenn P die Frage bejaht (1) [4], sage ich: “Sie können Ihre Kopfschmerzen meinetwegen (2) bis zur nächsten Sitzung aufheben, damit wir gründlich daran arbeiten können. Jetzt haben wir allerdings nur noch Zeit (3) für ein Wunder (4). Wären Sie zur Not (5) mit einem Wunder einverstanden?” Meist bejaht P auch diese Frage.
Ich stehe auf und bitte P, ebenfalls aufzustehen (6). Ich stelle weitere Fragen, die mit Ja oder Nein zu beantworten sind, zum Beispiel: Sie leiden schon lange genug an ihren Kopfschmerzen? Sie legen keinen gesteigerten Wert darauf, noch länger zu leiden? Sie wären sie wirklich gerne los? Und sie haben noch nie ein Wunder probiert? Ich stelle derartige Fragen so lange, bis P zu den Antworten die entsprechende Geste macht, also zu Ja nickt und zu Nein den Kopf schüttelt (7).
Dann erzähle ich, wie gern ich als Kind barfuß gelaufen bin und erinnere das lustvolle Gefühl, das sich einstellt, wenn die Pampe (der Batz, Gatsch, und so weiter – je nach Mundart der P) durch die Zehen quillt (8). Ich laufe auch heute noch gerne barfuß, am liebsten am Meer, spüre den feuchten Sand unter den Füßen, auf dem sich's leichter geht, mag aber auch den trockenen heißen Sand, in dem man mehr Mühe hat vorwärts zu kommen (9), und ich gehe gerne an der Wasserkante, wo die Wellen beim Kommen die Füße umspülen und beim Gehen ein wenig Sand unter den Füßen wegziehen (10). Dann frage ich, ob P gerne schwimmt, und biete zur Erleichterung das Mittelmeer an, weil dort das Wasser warm ist und wegen des großen Salzgehaltes gut trägt (11). Ich bleibe bei der Frage, bis ich wieder eine auch in der Kopfbewegung eindeutige Antwort bekomme (7).
Spätestens jetzt trete ich näher, bis ich P gegenüberstehe, und mute ihr eine Wirklichkeitsveränderung zu: Ich bitte um die Erlaubnis, einen kleinen Trick benutzen zu dürfen. “Ich brauche Ebbe und Flut, damit es funktioniert – können Sie sich vorstellen, dass es am Mittelmeer Gezeiten gibt?” (12). In der Regel bekomme ich auch hierzu die Zustimmung durch Nicken. Dann lasse ich P erinnern, wie sinnlich aufregend es sein kann zu spüren, wie mit kommender Flut das Wasser erst die Knöchel umspült, dann die Waden, dann die Knie, und so weiter, bis sie irgendwann mit den Fingerspitzen im Wasser plätschern kann (13). Ich bewege die Finger im imaginierten Wasser und beobachte, wie P die Geste nachahmt. Wenn das Wasser weiter steigt, kann P – wie zuhause in der Badewanne – wahrnehmen und sich wundern, wie die Arme ganz ohne Anstrengung “wie von selbst” gehoben werden. Dabei stehe ich P gegenüber und hebe selbst die Arme (14).
Jetzt erinnere ich P daran, dass von den Wellen des Meeres alles Mögliche herumgetrieben wird – Muscheln, Algen, Steinchen, Holzstücke – und schon mal in der ausgestreckten Hand liegen bleiben kann, lade P ein, doch einmal selbst zu schauen, was sie/er da in der Hand hat, und sage schließlich: “Zeigen Sie mal her, was Sie da haben” (15). Dann streckt P die Arme nach mir aus (16) so wie ich nach ihr, und wir lachen beide (17). Wenn ich dann frage “Haben Sie noch Kopfschmerzen”, wacht P erstaunt bis erschrocken auf aus dem Zauber und sagt: “Nein, die sind weg - aber das gibt's doch gar nicht.”

2. Fall: Chronisches Schmerzsyndrom
Eine bald sechzigjährige Frau (P) mit einer fast vierzigjährigen Schmerzanamnese hatte sich nach der Teilnahme an einer psychosomatisch orientierten Selbsterfahrungsgruppe bei mir zur Einzeltherapie gemeldet. In der Vorbesprechung zeigte sie sich als ehrgeizige, äußerst tüchtige Chefsekretärin und gebildete Frau aus gutem Hause, das sie früh verließ, nachdem sie dort nach einer stark gestörten Frühphase eine unglückliche Kindheit erlebt hatte.
In der Adoleszenz hatte sie an starker Migräne gelitten. Sie kam jetzt zur Therapie wegen der häufigen und heftigen Bauchschmerzen, an denen sie seit dem 23. Lebensjahr mehr oder weniger dauernd gelitten hatte. Oft konnte sie die Schmerzen nur nach einer Flasche Rotwein ertragen. Sie machte mir klar, dass sie nach bald 40 Jahren enttäuschender Therapieversuche nicht mit einer Besserung rechne. Auf die beharrlich wiederholte Frage, was sie in der Therapie suche, gab sie schließlich doch zu, sie wollte “die Schmerzen loswerden!” (1).
Ich wusste bei der Begrüßung an der Haustür, dass ich angesichts dieser Krankheitsgeschichte mit herkömmlichen Methoden auf verlorenem Posten stand. Im Behandlungszimmer stand die P eine Weile ratlos, weil ich ihr frei gelassen hatte, auf welchen Stuhl sie sich setzen wollte (18). Während ich noch überlegte, wie ich Zugang zu dieser P und ihren Schmerzen finden könnte, setzte ich mich auf den Boden (19), griff gedankenverloren zu meinen Tablas (indische Trommeln) und fing an, eine polyrhythmische Figur im Verhältnis 4/3 zu üben (20), worauf die P sowohl Faszination als auch noch größere Verwirrung sowie zunehmende Trancebereitschaft zeigte. Gleichzeitig setzte ich die Exploration fort (21).
Die P lebte nur für ihren Sohn und ging in ihrer Arbeit auf, womit sie nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern auch ihre Daseinsberechtigung verdiente. Der bevorstehende Auszug des Sohnes und die in Aussicht stehende Pensionierung beunruhigten sie daher mehr, als sie zunächst wahrhaben wollte (22). Ich erfuhr auch, dass die Bauchschmerzen meist wehenartig wären. Die naheliegende Vermutung, die Bauchschmerzen könnten eine Somatisierung nicht durchlebter Trauer über ungeborene Kinder sein, behielt ich für mich (23) und setzte das Tablaspiel und gleichzeitig die verbale Tranceinduktion fort.
Ich suggerierte der P den angenehmen Zustand, in dem es “nichts zu tun” gibt als “sich wie ein sattes Kind in den Armen der Mutter fallen lassen” (24).
Wenn Kinder “ganz für sich sein können” (25), dann “lassen Sie alles los [5] (26), lassen Sie den Atem kommen und gehen (27) – ein und aus und Pause – wie die Wellen des Meeres, die sich aufbauen und wieder zusammenfallen und eine Weile brauchen, um sich neu zu sammeln!” (28) – viele Dinge kommen und gehen wie die Wellen des Meeres (29) – und “gehen Sie auf ganz natürliche Weise in Trance” (30), “wie Sie es schon immer konnten, wie die vielen anderen Dinge, die Sie ganz von selbst tun konnten, lange bevor Vater und Mutter einen Einfluss auf Sie hatten!” (31). “Sie können den Boden unter den Füßen spüren, wahrnehmen wie der Stuhl Sie trägt und wie die Lehne Sie stützt” (32) ... “und wie der Atem kommt und geht so wie Ihr kommt und geht” (33) und so weiter.
Nachdem eine tiefe therapeutische Trance induziert war und P sich bereit erklärt hatte, Zustimmung beziehungsweise Ablehnung des Unbewussten zur Kooperation mit den jeweiligen Suggestionen durch idiomotorische Signale (Nicken beziehungsweise zäh verlangsamtes Kopfdrehen) anzudeuten (34), wurden ihr im therapeutischen Teil der Sitzung im Wesentlichen die folgenden Suggestionen gegeben: “Ihre Schmerzen sind ehrlich erworben” (die P nickt und atmet auf) (35) ... “sie sind körperlicher Ausdruck von seelischen Schmerzen in der Vergangenheit, die damals nicht anders zu ertragen und zu bewältigen waren” (die P nickt heftiger, weint und schluchzt schließlich) (36) ... “Sie können nur das loslassen, was Sie zuvor angenommen haben” (angestrengtes Aufmerken) (37), “und Sie haben die Wahl: Lassen Sie die Schmerzen jetzt los! und erinnern Sie sich später, was so weh getan hat” (Nicken, Anspannung) oder: “Lassen Sie die Schmerzen jetzt los und vergessen Sie, was Ihnen damals so großen Kummer bereitet hat” (Kopfschütteln) (38)...
“Ich kenne Sie als einen tüchtigen, gründlichen und verläßlichen Menschen.” (leichtes, zufriedenes Lächeln) (39) “Ich würde mich sehr wundern, wenn Sie es schneller als in drei Wochen schaffen würden, die Schmerzen loslassen! zu können” (P beantwortet diese Herausforderung mit Vorrecken des Kinns), “und ich würde mich sehr wundern, wenn Sie länger als sechs Wochen dafür brauchen würden, die Schmerzen loslassen! zu können” (im Gesicht Ausdruck von zuversichtlicher Selbstzufriedenheit und deutliches Nicken) ... (40) “Sie dürfen alles vergessen (41), was ich gesagt habe, alle Sorgen fahren lassen und Ihrem Unbewussten die Arbeit überlassen; denn das Unbewusste hat für Sie deutlich spürbar und für mich deutlich sichtbar Ihre Bereitschaft signalisiert, die körperlichen Schmerzen in Kürze loslassen und die seelischen konfrontieren zu wollen, wann immer es Zeit ist dafür.” (42) Schließlich suggerierte ich allmähliches Auftauchen aus der Trance zum Klang der Trommel, die ich ununterbrochen gespielt hatte.
Die Patientin rief zwei Tage später in heller Panik an. Die Schmerzen seien ganz weg, doch sie sei verzweifelt, denn sie wüsste nicht mehr, was ich ihr aufgetragen hätte - irgendwas müsse sie binnen drei bis sechs Wochen geschafft haben. Ich beruhigte sie, dass sie, ohne es zu merken, ihre Arbeit im Unbewussten erledigen und sich schon daran gewöhnen würde, dass manche Sachen ganz von selbst gut ausgehen und so weiter.
Nachdem sich die Patientin an die Schmerzfreiheit und die damit verbundenen Erregungszustände gewöhnt hatte, begann sie sich zu erinnern. Die wehenartigen Bauchschmerzen entpuppten sich als die Wehen nicht durchlebter Geburten und als der Schmerz über den Verlust von drei durch Abtreibung verlorenen Kindern. Sie konnte allmählich durch Weinen und Schluchzen als Ausdruck tief empfundener Reue und Trauer die chronischen Spannungsmuster lösen und ihre Geschichte annehmen. P ist nach wie vor weitgehend schmerzfrei und weiß inzwischen, dass jedes Mal, wenn ihre Schmerzen wiederkommen, es schmerzliche Ereignisse zu erinnern gibt. Sie kommt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen von 2 bis 4 Wochen, in denen wir mit Methoden aus der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie (hier Gestalt und Bioenergetische Analyse) traumatische Erfahrungen aufarbeiten und in ihre Lebensgeschichte integrieren.

Diskussion
Es ist nützlich, bei den einzelnen psychotherapeutischen Verfahren zwischen dem theoretischen Rahmen (tiefenpsychologisch, das heißt am lebensgeschichtlichen Hintergrund orientierte Psychotherapie inkl. Psychoanalyse; lerntheoretische, am Verhalten orientierte Verfahren; systemische Psychotherapie; Humanistische Psychotherapie, und so weiter), den angestrebten Zielen (Integration verdrängter Geschichte in den Lebenslauf und Einsicht ins So-Gewordensein, Symptombeseitigung durch Verhaltensänderung, Eingliederung ins System, Entfaltung wesensgemäßen Potentials zu persönlicher Eigenart, und so weiter) und dem methodischen Rüstzeug (Regression und Deutung; Verhaltenstraining, Nachreifung durch Einübung; Familienrekonstruktion, Re-Framing, Re-Parenting; Visualisierung, Selbst-Erinnerung; und so weiter) zu unterscheiden. So bedienen sich Gestalttherapie und bioenergetische Analyse eines erweiterten technischen Repertoires, auch wenn sie, wie die Psychoanalyse, im Grunde genommen tiefenpsychologisch orientierte Verfahren sind.
Die Hypnotherapie [6] nach Milton H. Erickson nimmt eine Sonderstellung ein; sie ist keiner der Schulen mit ihren unterschiedlichen Erklärungsmodellen verpflichtet, sondern bedient sich entsprechend dem anstehenden Problem der P der jeweils wirksamsten psychotherapeutischen Technik. Sie ist psychodynamisch orientiert, indem sie die Bedeutung von Kontakt beziehungsweise Rapport zwischen Therapeut und P betont, in Hypnose Altersregression induziert, die P in Kontakt bringt mit verdrängten Phasen ihrer Geschichte und in der Verdrängung gebundene Kräfte mobilisiert und diese zur Bewältigung der Gegenwart utilisiert; sie ist verhaltenstherapeutisch orientiert, indem sie in Hypnose die Bereitschaft der P zur Kooperation mit dem therapeutischen Prozess und zur Durchführung von Übungen (Hausaufgaben) erwirkt, in denen die P Entwicklung behinderndes oder gar selbstzerstörerisches Verhalten ändern lernen kann; sie bedient sich der Möglichkeiten der systemischen Therapie zur Rekonstruktion von Geschichte und Familie; und sie glaubt – entsprechend den Grundsätzen der Humanistischen Psychologie – an ein zu entfaltendes Potential und erarbeitet Zugang zu verschütteten Ressourcen im Unbewussten der P.

Es folgen Erläuterungen zu einzelnen, oben bezifferten Interventionen:
(1) Die Entscheidung, die Schmerzen lassen zu wollen, ist eine Bedingung für den guten Ausgang der Intervention.
(2) Migränepatienten sprechen in der Regel besitzanzeigend von ihrer Migräne – die darf man ihnen nicht ohne Einverständnis nehmen.
(3) Zeitdruck bringt P in die Zwickmühle zwischen dem Krankheitsgewinn Aufmerksamkeit für Leid und dem Lustgewinn Schmerzfreiheit.
(4) Jedermann weiß, dass bei Migräne nichts hilft – außer ein Wunder.
(5) Schwarzer Humor – bahnt Lösung durch Lachen.
(6) Im Stehen ist es leichter, zu dem zu stehen, was man sagt.
(7) Das Nicken und Kopfschütteln dient der Lösung der Spannungen des Nackens. Ich habe beobachtet, dass die Intervention bisher in allen (über 100) Fällen gewirkt hat außer in jenen, in denen P den Kopf bei den Antworten nicht bewegt hat.
(8) Die Erinnerung ans Barfußlaufen induziert Altersregression.
(9) Die Suggestion von Boden unter den Füßen und von Sinnlichkeit lenkt die Aufmerksamkeit und die Blutzufuhr vom Kopf in die Füße.
(10) Das Wegziehen von Sand unter den Füßen suggeriert Risikobereitschaft und Nervenkitzel und deutet Bodenverlust neu als möglicherweise lustvoll.
(11) Eine gute Mutter ist warm und kann uns tragen.
(12) Die Zustimmung zum Kommen und Gehen der Gezeiten bahnt die Zustimmung zum Gehen der Migräne.
(13) Das Spiel mit den Fingerspitzen löst Spannung in den Armen bis in den Nacken.
(14) Die Erinnerung an eigene Erfahrungen mit dem Auftrieb im Wasser induziert eine beidseitige Armlevitation.
(15) Die Aufforderung zu zeigen, was P in der Hand hat, ist eine wichtige Suggestion für Migränepatienten, die in der Regel das Gefühl haben, dem Kopfschmerz ausgeliefert zu sein und dem gegenüber nichts in der Hand zu haben. Außerdem wird oft beim genaueren Hinschauen der eingezogene Kopf herausgestreckt, was die Spannung weiterer Partien der Nackenmuskulatur löst.
(16) Das Strecken der Arme löst die Spannung im Bereich der oberen Schultermuskulatur.
(17) Lachen ist natürlich das umfassendste Mittel zur Lösung von Angstspannung.
(18) Die P in der zweiten Fallbeschreibung ist Tochter aus gutem Hause und bezieht Selbstsicherheit aus richtigem Benehmen. Keinen Platz angewiesen zu bekommen und selbst entscheiden zu müssen, wo sie sitzt, verwirrt sie im Moment, während gleichzeitig ihre Bereitschaft, sich von mir führen zu lassen und doch letztlich selbst zu entscheiden, gebahnt wird.
(19) Die P hatte vier Jahrzehnte lang die Unfähigkeit von mächtigen Männern bewiesen dadurch, dass ihr all die Ärzte nicht hatten helfen können (analog dem Vater, der sie mehrfach im Stich gelassen hatte, und ihren einflussreichen Liebhabern, die sie geschwängert sitzen gelassen hatten). Durch die Geste der Unterwerfung suggeriere ich meine Ohnmacht und Abhängigkeit von ihr für das Gelingen ihres Vorhabens.
(20) Tranceinduktion durch Polyrhythmik ist ein Standardelement in der von Flatischler und Büntig entwickelten Rhythmustherapie.
(21) In der Ericksonschen Hypnotherapie bedeutet Hypnose nicht Tiefschlaf, sondern gesteigerte Wachheit für innere Prozesse beziehungsweise für jene Bewusstseinsschichten, die wir gemeinhin das Vorbewusste, das Unterbewusste und das Unbewusste nennen, bei gleichzeitiger Dissoziation des rationalen, kontrollierenden Verstandes. Es ist dabei trotz tiefer Trance möglich, mit der P zu sprechen, wobei sie entweder sehr langsam verbal oder mit Fingersignalen antwortet.
(22) Viele Menschen, die nichts annehmen können und sich nicht angenommen fühlen, kennen ihren Wert als Geschöpf und Mensch nicht und glauben, ihr Dasein durch Leistung verdienen und ihren Selbstwert durch Tüchtigkeit beweisen zu müssen. Der Verlust dieser Kompensation musste die P zutiefst verunsichern.
(23) Ich behalte meine Deutungen immer für mich, denn die Deutung von innen im Aha-Erlebnis provoziert weniger Widerstand und bewegt die P eher zu angemessenen, das Leben verändernden Handlungen, als die Deutungen des Therapeuten.
(24) Diese Suggestion der Möglichkeit einer tragenden Mutter war für die in den ersten Lebenstagen von der eigenen Mutter weggegebene P, die mangels Vertrauens in den Halt durch andere stets selbst Haltung bewahrt hatte, sehr relevant und bewegend.
(25) Auch die Suggestion, ganz für sich sein zu können, eröffnete der P, die immer für andere da war, im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Möglichkeiten.
(26) “Lassen Sie alles los” heißt auch: “Lassen Sie die Kopfschmerzen los.”
(27) Die im Atemrhythmus der P gesprochene Hinlenkung des Bewusstseins auf den Prozess der Atmung ist eine der einfachsten Induktionen zur Einleitung und Vertiefung therapeutischer Trance.
(28) Analogie zum gesunden Rhythmus von Leistung, Nachlassen und Erholung.
(29) Krisen, Schwangerschaften, Söhne, berufliche Anforderungen und Schmerzen kommen und gehen. Das ist so natürlich wie das Kommen und Gehen des Atems.
(30) Die Bewusstseinsveränderung und der Kontrollverlust in Trance sind etwas ganz Natürliches.
(31) Erinnerung an das der P eingeborene Potential und an ihre Wurzeln in der Unbedingtheit.
(32) Mit dieser Suggestion kann die P Unterstützung annehmen lernen.
(33) Ihr statt er kommt und geht – wir werden geboren und wir sterben.
(34) Idiomotorische Signale, oft in Form von Strecken verschiedener Finger für “Ja”, “Nein” und “Ich weiß nicht”, sind eine Möglichkeit in der Hypnotherapie, auch in tiefer Trance mit tiefen Schichten des Bewusstseins der P zu kommunizieren.
(35) Die P ist nicht schuld an ihrem Zustand; sie hat, als sie ein kleines Kind war, ihre Not so gut sie konnte kompensieren gelernt,
(36) und zwar durch Somatisierung des seelischen Schmerzes.
(37) Die P muss ihr Schicksal annehmen, wenn sie die Schmerzen loslassen will.
(38) Ich lasse hier der P die Wahl, die Verletzungen der Vergangenheit zu vergessen oder später zu erinnern. Ich lasse ihr in diesem sog. therapeutischen double-bind jedoch keine Wahl, was das Loslassen der Schmerzen angeht.
(39) Hier packe ich P bei ihrer Ehre – im Fachjargon: Ich utilisiere ihre Wertvorstellung Tüchtigkeit; sie hat schon so viel geschafft im Leben – das schafft sie auch.
(40) Durch diese motorische Rückmeldung war ich ziemlich sicher, dass die Behandlung Erfolg haben und die P ihre Schmerzen aufgeben würde.
(41) Die P darf auch ihre schmerzhafte Geschichte vergessen.
(42) Verankerung der Aufgabe und Rückmeldung, dass ich die Bereitschaft der P dazu wahrgenommen habe.

Plädoyer (oder Diskussion)
Die Psychotherapie ist im Westen eine vergleichsweise junge Disziplin. Sie steckt nach hundert Jahren Psychoanalyse gerade eben in den Kinderschuhen. Wie jede neue Entwicklung neigt sie dazu, durch Richtungskämpfe vom eigentlichen Problem, nämlich dem relativen Mangel an gesichertem Wissen und der damit verbundenen Unsicherheit, abzulenken. Der Schulenstreit dient keinesfalls den Patienten, vielleicht der wissenschaftlichen Profilierung der Streiter, mit Sicherheit jedoch der Abwehr derer, die Angst vor ihrer eigenen Seele haben und aus diesem oder einem anderen Grund der Psychotherapie insgesamt skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Statt die Reinheit einer unsicheren Lehre zu verfechten, finde ich es sinnvoller, im nahen Kontakt zur P und zu der gegenwärtig wahrnehmbaren Dynamik zwischen Lebenslust und Sicherungsbestreben ein reichhaltiges Rüstzeug an Interventionen parat zu haben im Dienst an der Heilung leidender Menschen.
Keine therapeutische Disziplin eignet sich meines Erachtens so gut zur Integration der unterschiedlichsten Verfahren wie die Hypnotherapie nach Milton H. Erickson. Statt auf die kognitive Bewältigung komplexer Denkmodelle baut sie auf akute Wahrnehmung und bedingungslose Achtung der Lebensäußerungen der P, auf die ungenutzten Ressourcen im Unbewussten der P, auf die Nutzung von Symptomen als Wegweiser in Richtung einer Lösung und auf die therapeutische Kreativität im Umgang mit einer Vielzahl von technischen Interventionsmöglichkeiten.
Die erfolgreiche Kupierung eines akuten Anfalls von Migräne heilt noch nicht von dem chronischen Leiden; doch sie zeigt der P, dass überhaupt etwas hilft und dass es zu ihren in jahrelanger Wiederholung bestätigten Erfahrungen Alternativen gibt. Nicht alle Psychotherapien haben einen so durchschlagenden Erfolg wie die bei der P mit den chronischen Bauchschmerzen und manche haben gar keinen. Die beiden dargestellten Fallbeispiele können jedoch einen Eindruck von den Möglichkeiten eines integrativen Psychotherapiestils geben.

 

[1] Im psychosomatischen Denken ungeübte Kollegen mögen sich an dieser Stelle mit der Kurzformel begnügen: “Was die Person nicht aussprechen kann, muss der Körper sagen”.
[2] Literatur zur Psychosomatik und zur Körperpsychotherapie beim Verfasser.
[3] Auch diese Ambivalenz ging auf entsprechende Erfahrungen in früher Kindheit zurück.
[4] Die Zahlen in Klammern verweisen auf die entsprechenden Erläuterungen in der Diskussion.
[5] Kursiv wiedergegebene Zitate wurden mit dringlicher Betonung als Aufforderung gesprochen. Sie haben so suggestive Wirkung, selbst wenn der rationale Verstand das Kommando nicht bemerkt wie zum Beispiel in dem Satz: Wenn Kinder über etwas nachdenken, machen Sie die Augen zu!
[6] Literatur zu den genannten Verfahren und Hinweise auf Weiterbildungsmöglichkeiten beim Verfasser.