Begegnung mit dem Schatten

Erscheinungsjahr:
2007
Autor/Autorin:

Sonderdruck aus dem Buch:
Peter Lengsfeld (Hg.)
Mystik – Spiritualität der Zukunft. Erfahrung des Ewigen
Herder
ISBN: 3-451-28573-8
Erschienen im Februar 2005

Von Stille war keine Spur, als ich das erste Mal das Sitzen in der Stille probierte. Was ich erinnere, ist Angst. Es war nicht nur eine Angst. Es waren, aus heutigem Nachhinein gesehen, verschiedene Schichten von Angst.

Zunächst war es dies Unbegrenzte, dies unbegrenzt Stille, das schon von dem sonderbaren Schweigen im Raum auszugehen schien – die Menschen, die sich da bereits stumm auf ihren Kissen eingerichtet hatten – dies stille, unendlich Weite, das sich mir alsbald von innen ankündigte, als ich mich dann selbst reglos sitzend vorfand und einfach nur Angst verspürte.

Dies unendlich Stille und Weite. War es nicht genau das, was ich suchte? Womöglich, womöglich schon, ganz sicher sogar, aber nicht jetzt – nicht gerade jetzt, nicht so.

Es war, als ob es mich zöge, hineinzöge in etwas Stilles und Weites. Hell hätte ich es genannt, wenngleich sich keinerlei optische Wahrnehmung mit der Empfindung verband.

Es war, als könnte ich ihm gar nicht widerstehen, als müsste ich verloren gehen in dem Stillen, in dem Weiten, in dem Unbegrenzten, das da zog.

Wie mich wehren?
Kein Laut, an dem ich mich hätte halten können. Heimlich schaute ich mich um. Wie um mich zu vergewissern, dass alles noch war, wie es war. Ganz normal. In Grenzen. Ja, so war es noch. Jedes Ding hatte seine Form, seine Grenze. Jede mitsitzende Gestalt ihre Kontur. Auch ich saß da auf meinem schwarzen Kissen, ganz normal. Ich in meiner Grenze. Ich hätte nicht sagen können, woran ich diese festmachen konnte, aber ich fühlte sie, diese festgemachte Grenze. Diese Ichgrenze.

Damit war – auf einmal – eine nächste Angst da. Nicht vor etwas, was sich erst ankündigte, was zog, was werden wollte. Nicht vor etwas Kommendem, sondern angesichts dessen, was war. Was war denn? Eine Hosenfalte war. Gerade so, wie sie war, ganz normal. Meine Hände waren. Sie waren so, wie sie da eben ineinander lagen. – Immer noch. Unverändert. Genau so. Wie gebunden, wie festgenagelt. Wie ich. Ich selber wie gebunden, an meine Haltung, an mein so Dasitzen, an mein Dasein, an mich. Wie festgenagelt. An So-Dasein, an Sosein. Ich konnte nicht anders, als so zu sein, so dazusein, so, wie ich war. Das Wie – das war es nicht, das spielte keine Rolle. Nicht die Art des So war beängstigend, sondern die Festigkeit eines So, eines So Da. Also doch eine Art Angst vor etwas, Angst davor, dass es so bleibt. Dass das So da bleibt. Das ganz Normale, dass es so bleibt.

Wie ausbrechen?
Heimlich schaute ich mich um. Alle Dinge waren geblieben. Waren so geblieben, so da geblieben. Die Mitsitzenden auch. Sie saßen da, ganz normal. Warum brachen sie nicht aus? Nun, das durfte man ja nicht. Im Sitzen in der Stille bewegt man sich nicht. Auch nicht, wenn es einen einmal jucken sollte, oder wenn die Knie schmerzen oder man sonst ein Verlangen hätte, sich zu bewegen. Diese Übungsanweisung, wiewohl Graf Dürckheim sie nicht gebieterisch ausgesprochen hatte, in jenem Moment galt sie mir als absolut.

So kam die nächste Angst. Was, wenn ich mich an die Regel nicht halten konnte? Dieser Gedanke ließ die beiden anderen Ängste verschwinden. Nur noch Angst, mich bewegen zu müssen. Nicht so sein zu können, nicht so bleiben zu können. Mich nicht halten zu können. Schnell und laut zu atmen. Das tat ich schon. Zu zittern. Zu wackeln. Tat ich es schon? Irgendwie zu fuchteln. Ich hielt mich fest und fester. Die Schmerzen breiteten sich entsprechend aus. Vielleicht würde ich bald platzen. Zumindest schreien.

Wo war Hilfe?
Heimlich schaute ich mich um. Wie still und gelassen und friedlich sie alle da saßen. Ich bewunderte sie. Ich hasste sie. Soll doch ein anderer platzen oder schreien! Aber keiner wollte das. Keiner von diesen starren Böcken dachte daran. Ich war die Einzige. Die einzige Unfähige. Die Einzige, die nicht einmal einfach so da sitzen konnte, ganz normal. Ja, so war es. Was auch immer ich sonst können konnte, ich konnte nicht einfach nur so da sitzen, unbewegt, still, konnte nicht einfach nur da sein, ganz normal. Ich schämte mich so.

Damit kam die nächste Angst. Wenn die anderen das bemerkten! Zu meinem Erstaunen – im Nachhinein – vertrieb diese Angst wiederum die vorigen Ängste. Hauptsache, niemand merkte es. Hauptsache, man sah mir nichts an. Als ob jemand heimlich auf mich schaute!

Wie mich verbergen?
Hauptsache, ich gab keinen Laut von mir. Hauptsache, so tun als ob. Tun, als säße ich einfach da, unbewegt. So tun, als sei ich still. Irgendwie kam mir das vertraut vor. Tat ich vielleicht immer, als ob? Tat ich nur, als ob ich dieses oder jenes könnte? Tat ich, als ob ich da sei? Tat ich, als ob ich lebte?

Damit kam die nächste Angst. Ich war mir für einen Augenblick ganz sicher, dass ich gar nicht da war. Dass mein Körper nur so tat, als sei er da. In Wirklichkeit war da nichts. Keine Hände. Ich schaute sie an. Keine Hände. Sie tun nur als ob. Nichts. Und mein Atmen? Täuschung. Es tut nur, als sei es mein Atmen. Es hat nichts mit mir zu tun. Mehr noch. Es tut nur, als atme es. In Wirklichkeit bewegt sich nichts. Alles Stille, unendliche, grauenvolle Stille.

Nein!
Herzklopfen jetzt! Nichts als wildes Herzklopfen! Zum Zerspringen. Nächste Angst! Ob man sterben kann am Herzklopfen? Nicht sterben! In solche Angst hinein tönte die Klangschale. Ende. Bitte nie mehr! "Bitte nie mehr!", sagte ich zu Graf Dürckheim.

Und doch ahnte ich, dass ich die Spur gefunden hatte, die mich zur Stille führen sollte und damit zu der Wirklichkeit, von der ich schon lange wusste und nach der ich schon lange suchte. Jedenfalls, seit ich 13 Jahre alt war und den einen Ton gehört hatte.

Als Zuhörerin in einem Kurs, den der Cellist Pablo Casals leitete. Ein Schüler hatte Beethoven gespielt. Casals sagte ein paar freundliche Worte und nahm dann sein Instrument zur Hand. Natürlich erwartete ich voller Spannung, dass er nun aus der eben gehörten Sonate vorspielen werde. Aber er probierte wohl erst einmal die Bogenspannung auf der leeren Saite. Und so spielte er gerade nur einen Ton. Er galt noch nicht, dieser Ton. Er gehörte noch nicht zum Unterricht. Aber für meine Ohren sprengte er alles, galt er alles, dieser eine einmalige Ton. Ich war erschüttert bis in die Knochen und ich war mir ganz sicher, dass es sich um ein kosmisches Ereignis handelte, dass alle Menschen im Raum von derselben Erfahrung des Unbegrenzten getroffen sein mussten, getroffen und befreit. Aber so war es nicht. Während für mich alle Dinge schlagartig ein ganz anderes Gesicht bekommen hatten, ihr wahres Gesicht (hätte ich gesagt), während danach jeder Ton dieser eine Ton war, während danach jede meiner eigenen Bewegungen leicht war, leicht, leicht, als geschehe ich ohne mich, während mir Laute wie Farben entgegen leuchteten und sich nicht unterschieden von dem einen Ton, der längst verklungen war, bemerkte ich allmählich, dass für die Menschen um mich herum alles war wie vordem, ganz normal. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wahrhaben konnte, was ich wahrnahm, und dann dauerte es wieder eine Weile, bis diese Enttäuschung mit einer unsagbaren Traurigkeit ganz in mir angekommen war, und dann dauerte es wieder eine Weile, bis ich an mir und meiner Erfahrung zu zweifeln begann.

Seitdem war ich auf der Suche nach einer Verfassung, in der ich von dem Eigentlichen wieder etwas fände, von dem Klaren und Einfachen und Erfüllenden, von dem Versöhnenden und Wunderbaren, von dem Wahren.

Es mag vielen Menschen so gehen, dass sie sich aufgrund einer frühen Erfahrung, an die man selten oder gar nicht denkt, irgendwann auf die Suche machen nach dem tieferen Erkennen und nach dem Verwirklichen dessen, was da in der Erfahrung aufgeleuchtet hat, sei es ein zartes Empfinden gewesen oder ein gewaltiges Erleben. Es muss aber nicht eine solche Erfahrung den Ausschlag geben für die Suche. Die Ahnung davon – vielleicht aus dem schmerzlichen Vermissen des letztlich erfüllenden Elementes im Leben – kann genauso als Antrieb für die mehr oder weniger bewusste Suche nach einem spirituellen Weg wirken.

Es ist hier nicht der Raum, von dem Suchen und Finden und Weiterüben auf meinem eigenen Weg mit Karlfried Graf Dürckheim und später mit Willigis Jäger mehr zu berichten – wie bin ich dankbar für die Führung und Begleitung! Was wäre aus meinem Üben geworden ohne das Verständnis von Karlfried, ohne das Mitsein und die geduldige Ermutigung von Willigis!

Ich will mich konzentrieren auf den Aspekt der Begegnung mit dem Schatten und mich dabei beziehen und beschränken auf die Phänomene, die sich da in dem ersten Sitzen in der Stille gezeigt hatten und die später natürlich einzeln und vermischt wiederkehrten und als Qualitäten ganze Übungszeiten und Wegphasen bestimmten. "Zunächst war es dies Unbegrenzte, dieses Stille und Weite – hell hätte ich es genannt", was mir unwiderstehlich anziehend entgegen kam. Wie kann man da von Schatten sprechen? Unter Schatten verstehen wir für gewöhnlich Eigenschaften und Züge unserer Persönlichkeit, welche die Kehrseite derselben ausmachen. Negative Züge vor allem, die wir uns nicht gerne eingestehen, da wir üblicherweise die Tendenz haben, uns mit dem Guten und Hellen zu identifizieren, ein paar Schwächen mitgerechnet. Dunkles, Enges, Lautes – zum Beispiel – empfinden wir umso bedrohlicher, je weniger uns bewusst ist, dass wir selber Dunkles und Enges und Lautes an uns haben. Schatten ist nicht einfach Unbewusstes, Schatten ist, was das Bewusstsein im Schatten hält oder in den Schatten drängt, um nicht von seiner Existenz bedroht zu werden.

In solchem Sinn ist mir der Begriff Schatten am allernächsten, wenn meine Erinnerung zu dem Angsterleben in dem erstmaligen Sitzen in der Stille findet. Was da aufgetaucht ist, kam nicht von einem Außen, wenngleich der stille äußere Raum natürlich zu dem Erfahren beigetragen hat. Was sich da angekündigt hat, kam aber von innen. Von mir selbst. Aus einem mir bis dahin unbekannten Bereich meiner selbst. Und wenngleich ich es mit Ausdrücken wie weit, still und hell zu beschreiben suche, mit Begriffen, die ich als kostbar und wünschenswert bezeichnen würde, so war es mir doch bedrohlich. So bedrohlich, als sei es etwas Dunkles, so bedrohlich, dass mein Bewusstsein die Wahrnehmung abzuwehren suchte, damit es, das Bedrohliche meiner selbst, im Schatten des Bewusstseins bleibe. Damit es dunkel bleibe, damit es Schatten bleibe.

Warum war es eigentlich bedrohlich, das Weite, das Stille, das Helle? Bedrohlich ist, grob gesagt, was stärker scheint als man selbst, so dass es, wenn es will, einem etwas anhaben kann. War es so stark? Groß war es, eigenartig groß, grenzenlos groß, so dass es mir nicht ein Gegenüber war. Später, wenn die Angst bisweilen wiederkam, versuchte ich manchmal, es kleiner zu kriegen, indem ich mir ein Bild von ihm machte oder ihm einen Namen gab. "Gott" probierte ich zu sagen, damit es mir ein Etwas würde, ein Fassbares. Solange man einen Namen geben kann, bleibt das Bedrohliche wenigstens gefasst, man ist nicht ganz verloren.

Es war aber, als müsse ich darin verloren gehen in diesem Nichtfassbaren, in diesem Nichtbegrenzten, in diesem Nicht. Das war es, was es mir androhte, dass ich mich in ihm verliere, mich, mein Ich. Das war es, was es mir sagte, dieses Nicht. Dass es mich auch zu einem Nicht mache, dass es mich zu Nichte mache. Dass es zunichte mache mein Vermögen, mich über mein Wahrnehmen, mein Empfinden, mein Gefühl, meinen Gedanken, mein Bewusstsein zu identifizieren. Meine Wahrnehmung stieß einfach nicht an. Nirgends stieß sie an, um mir an solcher Grenze zu vermitteln, dass ich es sei, die Wahrnehmende. Vergeblich suchte ich, mit meinen Ohren anzustoßen an einem Laut. Stille um Stille öffnete sich dem Lauschen. So suchten meine Augen – im heimlichen Schauen – die vertrauten Grenzen, suchten die durch Gegensätze feststellbaren Elemente, suchten die Formen, die, indem ich sie registrierte, zu mir oder zu etwas anderem gehörten. Im vertrauten Unterscheiden fand ich wieder Halt.

Es sind die Form-Merkmale, – groß im Gegensatz zu klein, schwarz im Gegensatz zu weiß –, die uns in die tröstende Täuschung zurückbringen, das zu sein, wofür wir uns aufgrund der unterscheidenden Wahrnehmung halten. Als ob es nicht auszuhalten sei, dieses nicht begrenzte Sein selber zu sein. Dieses Nicht-Sein zu sein, dieses gegensatzfreie Sein selber zu sein. Es ist nicht auszuhalten. Es gibt nichts auszuhalten. Wer sollte aushalten? Es IST. Es IST ICH.

 

Der Halt hielt nicht lange. Die Kehrseite des gewohnten Unterscheidens, der Schatten der Halt gebenden Grenze zeigte sich alsbald. Diese Hosenfalte, die war, wie sie war. Gebunden an Sosein. Ich selbst, die ich war, wie ich war. Gebunden an Dasein, Sosein, Ichsein. Darin die beängstigende Ahnung, dass sich dieses Gebundensein nicht auflösen ließ. Es mochte sich verändern lassen; es veränderte sich ja in der Tat von Augenblick zu Augenblick, – keine Zelle an mir ist wie sie war, – keine Empfindung haargenau wie einst –, aber aufheben ließ es sich nicht, das Gebundensein. Ob ich so oder so da saß, ich saß da. Ich saß da als eine Gestalt mit diesem so entstandenen Körper, mit diesen Gefühlen und Gedanken, ich saß da als so geworden. Ich saß da. Und wenn ich mich augenblicklich gehäutet hätte, dann wäre ich doch einem neuen So und Da nicht entkommen. Einer Grenze. Einem Bedingten. Einem Gesetz. Dem Gesetz meiner Existenz. Und dem Bezugspunkt meiner Wahrnehmung, dem Bezugspunkt, der mich ich sagen ließ. Ich sehe etwas – ich. Jede Wahrnehmung, wohin sie sich auch wendet, sie trifft, sie betrifft – mich. Das bleibt. Kein Entkommen.

Diese Unentrinnbarkeit, wie sie sich in der reglosen Stille spiegelte! Sah ich es? Wie hing sie zusammen mit der grenzlosen Weite? Ich ahnte nicht die selige Verknüpfung. Ausbrechen, Vergessen schien mir die einzige Lösung.

Heimlich nach Entrinnen suchend, zeigte sich dann die Kehrseite der Kehrseite, Schatten des Schattens. Hatte ich eben noch Angst, dass alles so bliebe, wie es war, fürchtete ich jetzt auf einmal, dass ich nicht so bleiben konnte, wie ich sollte. Die Übung verlangte, sich nicht zu bewegen. Das war Gesetz. Ich machte es mir zum Zwang. So, dass genau dieser Zwang den Gegenzwang auslöste, den zwanghaften Drang, ins Gegenteil zu schlagen, sich zu bewegen. Neue Bedingtheit. Der Zwang, einem Drang folgen zu müssen, um einem Normzwang zu entgehen. Angst, die Norm nicht halten zu können. Angst, nicht mithalten zu können. Ausgeschlossen sein. Wegen Unvermögens. Wegen Hilflosigkeit. Kehrseite der sicheren, mutigen, jeder Situation gewachsenen Silvia. Schatten des Wunschbildes meiner selbst. Scham. Wer will unvermögend und hilflos sein? Scham nicht zuletzt wegen der Angst, wegen dieser lächerlichen Angst, nicht stillhalten zu können und damit nicht normal zu sein. Erinnerung – später – an Kindheitsträume, in denen ich stillhalten sollte und es nicht konnte. Erinnerung an Strafe, im Traum. Wer würde mich jetzt strafen? Ich war mir der Strafe sicher, auch wenn meine Vernunft es tausendmal geleugnet hätte. Warum wagte ich sonst nicht, mich ein bisschen zu bewegen, wenn ich es doch wünschte? Ich wagte nicht und musste somit fürchten, dass passiere, was ich wünschte. (Wie oft geschieht es wohl, dass genau die Dinge uns passieren, die wir fürchten, weil wir sie wünschen und nicht wagen?) Scham über Scham. Enttäuschung über mich. Vergleich mit den anderen. Dieses eigenartige Gemisch von Bewunderung und Hass, in welchem purer Neid sich zu äußern pflegt. Die Anderen werden zu Trägern des eigenen Wunschbildes, Projektion nennt man das. Das Minderwertigkeitsgefühl wirft abwechselnd Gloriole oder Spottzerrbild über sie. Wie wunderbar still sie sitzen können, diese Halbgötter! Wie stumpf sie da hocken, diese Ölgötzen!

Wenn sie nur nicht bemerkten, wer da mitten unter ihnen saß. Nun also die nächste Angst, nahtlos hervorgehend aus der Furcht vor Ausgeschlossenheit. Die Angst, gesehen und erkannt zu werden. Wie wünscht man es sich! Gesehen sein! Erkannt werden! Im besseren Moment, immer im besseren Moment, nur nicht im wahren.

Aber es gelang mir, mich nicht zu zeigen, es gelang, meine Unstille zu verbergen, es gelang, mich selbst zu verbergen. Es gelang zu scheinen. So tun als ob ich da sitze. Ein kleiner Sieg? Bis eine neue Kehrseite sich zeigte, die Kehrseite von dem Schatten verbergenden, glänzenden Scheinen. Der Schatten des Scheins, Schatten des Anscheins. Was liegt im Schatten des Anscheins? Nicht und nichts. Du scheinst nur still. Du bist es nicht. Du scheinst nur dazusein. Du bist nicht. Schein scheint nur zu sein. Sein Schatten ist Nichtsein.

Neue, tiefe, viel tiefere Angst. Angst, die sich mit der allerersten Angst berührte, mit der Furcht, in der Weite und Stille vergehen zu müssen. Mit jener Todesangst. Jetzt aber anders: Nicht Angst vor Tod, sondern Angst, nicht zu sein. Nicht nur, nicht so zu sein, nicht nur, nicht da zu sein. Angst, nicht zu sein. Totseinangst! Angst, nur Schein zu sein. Diese Hände da: Scheinhände. Mein Atmen? Scheinatem. Ich? Scheinsein. Nein! Nicht sterben! Herzklopfen sagt: Nicht sterben! Herzklopfen schreit: Sein will Dasein!! Merkwürdige Dimension von körperlicher Panik, von physischer Reaktion, wie eine sich verselbständigende Funktion.

Ich sah nicht, was sich spiegeln wollte in der fürchtenden Ahnung: Ich sah nicht, was da aufscheinen wollte inmitten der Angst oder gar mittels der Angst. Sah nicht die Hände als eine Erscheinung von dem, was, vor lauter Weite und Stille, vor lauter Nicht, sich als solches gar nicht zeigen kann. Sah in dem Schein nicht das Aufscheinen von dem, von dem Sein, das sich an keinem Da und keinem So festmachen lässt. Sah nicht die Kernkehrseite von Sein, das Licht des Nichtseins, das Licht der Nichtheit. Sah nicht wirklich meine Hände, die weder sind noch nicht sind. Die nur einfach so ineinander liegen, wie sie liegen.

Ich sah nicht, was mein eigenes Sein schon immer wusste, und was mein Ich, – von Graf Dürckheim kleines Ich genannt –, was mein Ich zu erkennen sich wehrte vor lauter Angst, dass es sich in einem Umfassenderen verlieren und endlich finden dürfe.
Warum tat ich eigentlich nicht einfach weiterhin, wozu die Übung einlud und aufforderte? Warum schaute ich nicht einfach weiterhin und immer weiterhin zu meinem Atmen? Wie auch immer es sich anfühlte, schnell oder langsam, tief oder flach, warum schaute ich nicht einfach weiterhin und immerfort hinein in dieses Gehen und Kommen?

Ich hätte gesehen, wie in einem stillen Fluss auf jeden Einatem der Ausatem folgte, als gehorche er einer Anweisung, und wie jeder Ausatem seinerseits dem Einatem folgte, im Horchen auf sein Gesetz, im Horchen auf seine eigene ihn bedingende Natur.

Ich hätte hineinschauen können in das Wunder dieses Existenz bedingenden Gesetzes. Ich hätte sehen können, wie mein Atem – ohne mein Zutun, ohne mein Wissen, ohne mein Fragen, ohne meinen Kommentar – wie mein Atem in jedem Augenblick neu die Verwirklichung dieses Gesetzes wurde, dieses nie endenden Gesetzes, dieses Gesetzes, das keinem anderen Gesetz folgte als sich selbst.

Ich hätte diese ständige Folge von Ursache und Wirkung beobachten können. Ich hätte im weiter und weiter Schauen in dieses Folgen hineinschauen können. Mein Schauen hätte dieses Folgen von Ursache und Wirkung von innen erfahren können. Mein Schauen hätte erfahren können, wie das Gesetz von ständiger Ursache und Wirkung mich lebendig machte, mein Lebendigsein gerade jetzt und jetzt bedingte und bewirkte, wie gerade dieses Gesetz mich ausmachte. Wie ich nichts anderes war als dieses Gesetz, dieses dynamische, atmende Gesetz, dieses Seingesetz, durch nichts bedingt als durch Sein, durch Sein selbst, durch unbedingtes, grenzloses Sein.

Als ob das Unbedingte, – indem es sich offenbar zeigen, offenbaren will – wem eigentlich? – als ob das Unbedingte, um sich zu offenbaren, sich in Bedingtheit gibt, in Grenze, in Unterscheidung, in Bindung, in Gegensatz. Als ob es, das Unbedingte, sich unterwirft der Bedingtheit und Dynamik von Existenz, dem Werden und Vergehen, als ob es, das Übergegensätzliche, sich unterwirft dem Gegensatz, dem Licht und Dunkel, dem Gut und Böse. Selige Verknüpfung. Seliges Nichtzwei von Weite und Fassung. Seliges Nicht – Verpassen – Können.

Sobald ich bin, so wie ich gerade bin, so weit oder eng, so gut oder böse, so bedingt jedenfalls – sobald ich bin, kann ich es nicht verpassen: das Weite, das ewig Stille, das Unbedingte, das sich selber fasst als Ich und Du. Das Unvergleichbare, das sich ohne jede Bedingung eins sein lässt mit meinem Sosein und mit deinem Anderssein. Das Nicht, das sich dasein lässt als mich-sich, als dich-sich, als mich-dich.

Ich hätte sehen können, wie ein Gedanke sich aus dem anderen entwickelte, wie diese Entwicklung gerade dem Gesetz folgte von Ursache und Wirkung. Kann ich sagen folgte? Gibt es ein Folgen im Hineinschauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung? Es ist kein Schauen, es ist kein Folgen, es ist ein einziges Erschaffen. Jeder Gedanke, jeder Schritt, er erschafft sich selbst. Ich kann nicht anders als mich zu erschaffen, ob ich geboren werde oder sterbe. Ob ich einer Anweisung folge oder Widerstand leiste, ob ich wiederhole oder Neues erfinde.

Ich hätte sehen können, wie selbst mein Nichtsehen und meine Angst das Unbedingte nicht verpassen konnten. Wie dieses sich nicht scheute, sich so zu offenbaren. Aber ich war so verrückt, das nicht sehen zu wollen. Ich war so, es noch nicht sehen zu können.

Statt dessen steigern wir uns in den letztlich perversen Gedanken hinein, nicht so zu sein, wie wir meinen, sein zu müssen. Nicht ganz so zu sein, nicht ganz zu sein. Wie auch immer es gezeichnet ist, das Sein-Müssen-Bild, es ist wie ein – in Verkehrung geratener – Ersatz von dem einzig Ganzen und Unbedingten, von dem unverfehlbar Wirklichen, denn jedes Sein-Müssen-Bild will das Unbegrenzte und Unbedingte fixierend ersetzen, will es eingrenzen auf bestimmte Werte, eben auf solche, die sein müssen im Gegensatz zu anderen, die nicht sein dürfen.

Diese in den Schatten gedrängten Unstärken und Schwächen aber, sie tauchen auf, wann immer es Zeit ist zum Erkennen des Wirklichseins. Sie melden sich aus ihrem Schattendasein heraus, und zwar dadurch, dass sie – quasi bedrohlich – sagen: du kannst gar nicht so sein, wie du meinst sein zu müssen, du kannst nicht so unwirklich sein! So dass gerade diese Aussage, die Angst macht, gleichzeitig von der gesuchten Wirklichkeit kündet. Denn was sagt sie anderes als: du bist schon immer ganz, du bist wirklich das Ganze, das ganze Sein, das unbegrenzt Weite, das Unvergleichliche. Du bist nichts anderes als ES. Du kannst es nicht verpassen, du kannst nichts hinzufügen.

 

Die Erfahrung dieses Mysteriums, die Erfahrung solcher schon immer gewährten Erlöstheit führt nicht, wie man ohne die Erfahrung befürchten möchte, in einen Zustand von verantwortungslosem Laisser-faire, in einen regressiven Einheitstaumel. Im Gegenteil. Sie führt – mit der Zeit und mit dem Weiterüben und immer mehr – in eine integrative Sicht der Wirklichkeit. In solcher Sicht bleibt wohl die Spannung zwischen Glück und Leid, aber diese Spannung zeigt gleichzeitig ihr übergegensätzliches Gesicht, angesichts dessen gewohnheitsmäßige Lähmung einer Lust und einem Mut zum Schöpferischen weicht mit der Kraft zu verändern, was umgewandelt werden will. Es bleibt die Spannung zwischen Gut und Böse, aber diese Spannung zeigt gleichzeitig ihr übergegensätzliches Gesicht, angesichts dessen sich Anklage in Mitsein mit Opfern und Tätern wandelt. Es bleibt der eigene Schatten, der, wenn er als solcher durchschaut wird, die in ihm gebundene Energie freigibt zu dem Tun, das aus Schauen wächst. Es bleibt die Spannung zwischen heil und unheil, es bleibt die Grundspannung zwischen Gegensätzen, sobald das Bewusstsein sich auf dualistischer Ebene bewegt, es bleibt die Grundspannung, die zur Achtung vor dem Fluch und Segen aller Zweiheit führt und die zu immer weiterer Übung ruft, damit das Erkennen des Einen sich immer mehr in heilvoller Handlung zu erkennen gebe.

Es bleibt die Spannung zwischen Werden und Vergehen, und sie zeigt gleichzeitig ihr übergegensätzliches Gesicht von Sein.

Es bleibt das eine Ding so und das andere anders, und gleichzeitig ist gerade nur dies, dies eine hier, dies jetzt, das Ganze. Gleichzeitig ist immer nur gerade dies.