Bindung, Rechtshirn und Lebensbewältigung

Erscheinungsjahr:
2004
Autor/Autorin:

Leicht überarbeitetes und gekürztes Transkript der Übersetzung von Wolf Büntig bei der Internationalen Konferenz Humanistische Medizin in Garmisch-Partenkirchen im November 2002.

Ich möchte heute über die frühesten Wurzeln des menschlichen Erlebens sprechen – den ersten Kontakt zwischen einem Kind und seiner Mutter. Wir sprechen nicht nur über die Beziehung zwischen zwei Lebewesen, sondern auch zwischen zwei Körpern und zwei Gehirnen sowie die Wichtigkeit der rechten Hirnhälfte. Die (linke) sprechende Hemisphäre gilt allgemein als die dominante und das Rechtshirn als die nicht dominante Hemisphäre. Dabei ist die rechte Hemisphäre dominant für die Empathie, die Emotionen, und die Regulierung körperlicher Prozesse und in vieler anderer Weise wichtiger als die Sprachfähigkeiten des Individuums.

Wir befinden uns derzeit in einer bemerkenswerter Wachstumsperiode hinsichtlich des durch Forschung verfügbaren Wissens über zentrale Aspekte des menschlichen Seins dank neuer, wunderbarer bildgebender Verfahren zur Darstellung des Gehirns in real time. Diese Studien verlagern sich inzwischen von der Neurologie über die Psychiatrie bis zur Psychologie und damit bis zum Studium individueller Unterschiede und der Persönlichkeit und wir sehen zunehmend nicht nur Studien des Erwachsenengehirns, sondern auch des sich entwickelnden Gehirns des Säuglings.

Diese Studien treffen sich sehr schön mit der Bindungstheorie. Die Bindungstheorie ist zur Zeit das dominante der Wissenschaft zur Verfügung stehende Modell der sozioemotionalen Entwicklung. Diese Integration führt zu aussagekräftigeren Modellen davon, wie frühe Ereignisse die Entwicklung der Persönlichkeit unauslöschlich beeinflussen.

Am Anfang meines Buches von 1994 über emotionale Entwicklung schrieb ich: „Der Anfang lebender Systeme bereitet den Boden für alle Aspekte des inneren und äußeren Funktionierens eines Organismus während der gesamten Lebenszeit." Was am Anfang passiert, beeinflusst unauslöschlich alles, was folgt. Wie organisieren diese frühen, vor allem emotionalen Erfahrungen das Wachstum der sich entfaltenden Persönlichkeit?

Die uns heute zur Verfügung stehenden Modelle der Säuglingsforschung integrieren die Gegebenheiten der Natur und der Versorgung (nature and nurture). Zum einen zeigen diese Untersuchungen, dass dieser Säugling von vornherein Informationen aktiv verarbeitet. Der Schlüssel zu diesem Fortschritt ist, dass wir nicht nur das Kind, sondern die Natur der Beziehung zwischen dem Säugling und der Mutter studieren. Danach ist der wichtigste Faktor für das Wachstum des Kindes die Beziehung, die der Säugling mit seinen Pflegepersonen hat. Darüber hinaus haben die zwischenpersönlichen Ereignisse tiefe Wirkung auf die Struktur des sich entwickelnden Gehirns selbst.

Das abstrakte Konzept Natur wird dargestellt als sich entfaltende Hirnentwicklung. Die frühen sozioemotionalen Ereignisse werden während der Zeit, die wir den Spurt des Hirnwachstums nennen, der biologischen Struktur des wachsenden Gehirns eingeprägt. Wir sehen (im Dia) in der kurzen Zeitspanne von Empfängnis, intrauterinem Leben und Geburt bis ins zweite Lebensjahr eine massive Entfaltung des Gehirns von 400 g bis zu 1200 g im Alter von 12 Monaten. Damit entwickeln sich fünf Sechstel des Gehirns in den ersten 18 bis 24 Monaten nach der Geburt. Das bedeutet, dass dieser Spurt nicht nur durch das genetische Programm angetrieben wird, sondern dass die Umgebung einen mächtigen Einfluss auf das genetische Programm hat.

Die Umgebung wird zunächst im Uterus in Wechselwirkung durch den Fötus und die Mutter gemeinsam gestaltet. Neue Forschung zeigt, dass die Hormone der Mutter die Expression der Gene des Gehirns des Fötus regulieren und Veränderungen des Gehirns bewirken, die bis ins Erwachsenenalter aufrecht erhalten werden. Auch nach der Geburt wird in den ersten zwei Jahren die Umgebung durch die Beziehung zwischen dem Neugeborenen und der Mutter von beiden gemeinsam gestaltet, wobei die emotionalen Interaktionen den Genotypus des Kindes weiterhin beeinflussen. Die Idee, dass alles, was vor der Geburt passiert, genetisch bedingt, und alles was danach stattfindet, umweltbedingt sei, ist einer der großen Irrtümer der Wissenschaft.

Auch weiterhin sehen wir eine Ausformung des genetischen Potentials durch Erfahrung. Das uns von der Natur mitgegebene Potential kann nur in dem Maße verwirklicht werden, wie es durch Pflege ermöglicht wird. Das menschliche Gehirn ist so geschaffen, dass es ausgeformt werden muss durch die Umweltbeziehungen, auf die es trifft.

Die Studien der Bindungstheorie sind unsere Hauptquelle des Wissens um die frühe Entwicklung durch Pflege. John Bowlby war der erste, der die Bindungstheorie vorstellte. In seinem Klassiker von 1969 (Attachment) integrierte er Psychoanalyse und Verhaltensbiologie mit den ethologischen Studien von Konrad Lorenz und Nico Tinbergen und weiter zurück bis zu Darwin. Darwin hatte in den Jahren um 1870 gezeigt, dass die ersten Interaktionen zwischen Mutter und Kind zwischen dem Gesicht und dem Körper von beiden stattfinden. Bowlby beschrieb vor allem die emotionalen Aspekte der Bindungstheorie. Er beobachtete, dass sie im Kontext von Gesichtsausdruck, Haltung, Betonungen der Stimme, Veränderungen in der Physiologie, Bewegungsgeschwindigkeit und Handlungsimpulsen stattfinden und charakterisiert sind von den stärksten Gefühlen von Glück oder dem Gegenteil. Er zeigte vor allem, dass die Fähigkeit des Säuglings, mit Stress fertig zu werden, beeinflusst war durch die Beziehung zur Mutter. Bowlby ging so weit zu sagen, dass die frühe Bindung entscheidend ist für das Überleben der Spezies. Und er vermutete, dass die frühen Erfahrungen gespeichert sind in dem Teil des Gehirns, das für die Emotionen zuständig ist, nämlich im limbischen System.

In meinem Buch ‚Affektregulation und der Beginn der Persönlichkeit‘ von 1998 habe ich Säuglingsforschung mit Psychiatrie und Neurowissenschaften zu integrieren versucht, um aussagekräftigere Modelle von normaler und anormaler Entwicklung zu formulieren. Das Konzept der Affektregulation wird inzwischen von allen physiologischen und psychologischen Wissenschaften geteilt. Wir können heute zusammenfassend sagen, dass die Förderung der Selbstregulierung von zentraler Bedeutung für die kindliche Entwicklung ist und es sieht so aus, als wäre die größte Leistung der frühen Zeit die Fähigkeit, Affekt zu regulieren. Der Kern meiner These ist, dass die Erfahrungen, die notwendig sind für die erfahrungsabhängige Reifung des Hirnes in den ersten zwei Jahren, die sozioemotionale Kommunikationen in der frühen Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Säugling sind. Der Sinn der frühen Bindung ist offensichtlich, die Organisation des Gehirns selbst zu unterstützen. Dabei wird Emotion zunächst durch die Eltern und im Lauf der Zeit infolge der wachsenden neurophysiologischen Fähigkeiten durch das Kind selbst reguliert.

Das Rechtshirn ist mehr mit dem Emotionen verarbeitenden limbischen System verbunden; es reguliert Emotionen sowie es das Linkshirn nicht vermag. Und das Rechtshirn ist mehr als das linke verbunden mit dem autonomen Nervensystem. Das linke Hirn hingegen ist zwar verbal linguistisch bewusst, doch es fängt nicht vor dem 18. Lebensmonat an sich zu entfalten, und so ist das sich früh entwickelnde Rechtshirn tiefer mit dem Körper verbunden. Wir wissen heute, dass auch das autonome Nervensystem sich nach der Geburt weiterentwickelt unter dem Einfluss der Mutter-Kind-Beziehung.

Alle frühen Erfahrungen aus den Bindungsbeziehungen werden im früh sich entwickelnden Rechtshirn gespeichert. Das Rechtshirn ist in den ersten drei Jahren dominant und erst im vierten Lebensjahr wird die linke Hemisphäre dominant wie beim Erwachsenen. Doch für den Rest des Lebens bleibt das Rechtshirn verantwortlich für die Verarbeitung der physiologischen und kognitiven Aspekte der Emotionen, und diese wesentlichen adaptiven Funktionen vollziehen sich ständig unterhalb von bewusster Wahrnehmung.

Nach dieser Einleitung möchte ich ein detaillierteres Modell der Bindung und der Regulierung des Rechtshirns vorstellen. Ich konzentriere mich dabei auf eine gute, das heißt sichere Bindungsbeziehung, die ein Regenerationsfaktor für seelische und körperliche Gesundheit das ganze Leben hindurch bleibt.

Vor allem in den letzten Schwangerschaftsmonaten bilden der Fötus und die Mutter ein kommunizierendes System. Die intrauterine Umgebung ist eine Pufferzone für das Kind, doch auf hohem Stressniveau hat der Stress der Mutter eine Wirkung auf die Entwicklung des Kindes. Der Stresszustand der Mutter drückt sich aus durch Stresshormone, die vom Kind wahrgenommen werden.

Von der Geburt an nutzt das sich entwickelnde Kind seine Stressbewältigungskapazität für die Interaktion mit der Umgebung. In seinen frühesten Interaktionen nutzt es seine sich entwickelnden Sinnesfähigkeiten – vor allem Geruch, Geschmack und Berührung. Studien mit den neuen bildgebenden Verfahren können die Entwicklung des Gehirnes schon mit acht Wochen zeigen, und so ist schon zum Ende des zweiten Monats eine immense Beschleunigung in der Entwicklung der sozialen und emotionalen Fähigkeiten zu beobachten. Wir sehen zu dieser Zeit eine radikale Stoffwechselveränderung im visuellen Kortex des Kindes. Denn jetzt fängt das Kind an visuelle Eindrücke, vor allem vom Gesicht der Mutter zu verarbeiten.

Das Gesicht der Mutter wird der wichtigste Reiz in der Wahrnehmung des Kindes. Sein intensives Interesse vor allem am Blick der Mutter führt zu Perioden intensiven Blickkontakts mit der Mutter. Der Blick des Kindes löst das Schauen der Mutter aus und es beginnt ein intensiver Austausch von Interesse aneinander. Es wurde beobachtet, dass die Pupille des Auges als ein nonverbales Kommunikationsmittel wirkt und dass große Pupillen das Interesse der Mutter wecken. Schauen Sie sich das Baby an, dessen weit offene Pupillen die Mutter in den Bann ziehen. Mutter Natur hat offensichtlich dafür gesorgt, dass das offene Gesicht eines Kindes für Menschen ein äußerst erfreuliches Bild darstellt.

Der wichtigste Lernschritt der Kindheit scheint der zu lernen, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren. Wieviel verstehen wir von diesem Prozess? Sie sehen hier (auf diesem sog. split-screen) die im Abstand von zwei Sekunden aufgenommene Kontaktsequenz von relativer Neutralität bis hin zu intensiver Freude. Diese Erfahrungen beginnen mit zwei Monaten. Das sind höchst erregende, emotionsgeladene Erlebnisse, die das Kind einem hohen Niveau von kognitiver und emotionaler Information aussetzen. Um dieses hohe Niveau zu erhalten, synchronisieren Mutter und Kind ihr Verhalten innerhalb von Bruchteilen von Sekunden – natürlich alles auf einem völlig unbewussten Niveau. Bitte beachten Sie, dass die ersten Erfahrungen der Interaktion zwischen zwei Menschen in einem spielerischen Kontext geschehen, wo sie ihre Zustände abgleichen und ihre Aufmerksamkeit auf die Antworten einstellen, die vom anderen kommen. Die technische Bezeichnung für diesen Vorgang ist Affektsynchronisation. Die beiden geraten miteinander in Einklang durch intuitive, unbewusste Gesichts-, Stimm- und Gesten-Kommunikation.

Je mehr die Mutter ihre Aufmerksamkeit während Perioden sozialer Interaktion auf das Kind einstellt, je mehr sie ihm erlaubt, sich während Perioden der Lösung zu erholen, und je mehr sie auf seine Signale zur Wiederaufnahme des Kontaktes reagiert, um so synchronisierter ist ihre Interaktion. Wenn die Mutter jedoch weiterhin auf hoher Intensität bleibt, während das Kind sich zurückzieht, dann stört sie die Selbstregulation des Kindes und das kann später zu Schwierigkeiten führen.

Diese Mechanismen sind grundlegend für die emotionale Entwicklung des Kindes. Wir wissen andererseits, dass die versorgende Person nicht immer optimal auf das eingestimmt ist, was vom Kind kommt. So etwas wie die perfekte Mutter gibt es nicht. Also sehen wir auch in der Forschung häufig mangelhafte Anpassung und Abbrüche in der Bindungsdyade, in denen der Mutter die Entzifferung des emotionalen Zustandes des Kindes misslingt. Hier finden wir, was wir interaktive Reparatur nennen, wobei die Mutter, die sich auf das Kind nicht einstellen konnte, ihre Affektregulierung in Antwort auf die negativen Äußerungen ihres Kindes wieder aufnimmt. Entscheidend hierzu ist die Fähigkeit der Mutter, ihre eigene Negativität wahrzunehmen und zu regulieren. Das lehrt so das Kind, dass seine Negativität zu ertragen ist und dass negative Emotionen aufgenommen werden können. Die Elastizität in der Fähigkeit sich zu erholen zeigt sich in der Fähigkeit von Mutter und Kind, von positiv zu negativ und zurück zu positiv zu gehen. Die Elastizität unter Stress ist wahrscheinlich der beste Indikator für eine gute Bindung.

Im Laufe der ersten zwei Jahre haben wir also diese zwei regulierenden Prozesse: Affekt-Einklang, der zu positiver Anregung, Erregung und Freude führt, und interaktive Reparatur, die negative Emotionen reguliert. Bindung kann so als die Regulierung von Emotionen definiert werden. Das Baby bindet sich an die Pflegeperson, die Stress minimiert und die Freude maximiert. Diese gut regulierten emotionalen Interaktionen mit einer bekannten, verlässlichen Hauptpflegeperson schaffen nicht nur ein Gefühl von Sicherheit, sondern eine positiv geladene Neugier, die die Explorationen neuer physischer und sozialer Umgebung auslösen.

Die nächste Frage ist, wie diese emotionalen Interaktionen das sich entwickelnde Gehirn beeinflussen.

Schauen wir uns frühe Vis-a-vis-Transaktionen an, die ersten wirklich intersubjektiven Kommunikationen zwischen zwei Menschen: Auge-zu-Auge-Botschaften, die Fähigkeit Gesichtsausdruck zu lesen, auch die hörbaren Äußerungen, wobei es nicht um die Worte, sondern um den Ton geht, der die Musik macht; und schließlich die Berührungs-Empfindungen und die körperlichen Gesten. Für den Rest unseres Lebens verlassen wir uns auf den Ton der Stimme, um die zentrale Information zu erfassen, die der andere uns gibt, ebenso wie den spontanen Gesichtsausdruck. Die neue Biologie der Bindung studiert nicht nur Bindung als Verhalten, sondern kann den Vorgang bildlich darstellen. Dieses Dia fasst den ganzen Vortrag zusammen: Wir sehen hier die Regulatoren des Wachstums des Gehirns des Kindes. Die sind mit dem sich entwickelnden Gehirn der Mutter durch emotionale Kommunikation verbunden. Und beide Gehirne sind in Resonanz auf einem positiven Niveau. Dieser Prozess spontaner emotionaler Kommunikation setzt sich im ganzen weiteren Leben fort.

Das ist keine kontrollierte, sondern spontane emotionale Kommunikation zwischen den limbischen Systemen. In diesen intensiven Momenten der Verbindung haben wir nicht ein Gespräch zwischen zwei Sprachzentren, sondern zwischen zwei viel tiefer liegenden Strukturen. In diesen Momenten tiefer emotionaler Kommunikation, die wir Rechtshirn-zu-Rechtshirn-Kommunikation nennen können, sind die beiden in einer einzigen biologischen Einheit. In diesen Momenten der Prägung werden diese Erfahrungen wie durch einen Stempel in das sich entwickelnde Gehirn eingeprägt.

Ich gebe ihnen jetzt ein Zitat aus einem sehr technischen, hochrangigen Wissenschaftsjournal, das eine Integration der sog. harten Wissenschaften in die weichen Wissenschaften zeigt: „Wenn das Kind gehalten und geknuddelt wird, werden zerebrale Netzwerke aktiviert und die Erregung breitet sich aus in assoziierte Netzwerke. Wenn für das Kind gesungen wird, werden weitere Netzwerke gestärkt, um Klänge empfangen und als Gesang erkennen zu können. Das wiederholte Erscheinen der Mutter gibt dem Kind ein Fixierungsobjekt für eine Prägung.“

Die rechte Hemisphäre des kindlichen Gehirns, die – wie wir wissen – für das Erkennen der Eindrücke vom Gesicht wie auch für die Deutung der Stimme der Mutter dominant ist, wird synchronisiert und reguliert durch den Ausdruck der rechten Hemisphäre der Mutter, die dominant ist für den Blick, die nonverbale Kommunikation und die Fähigkeit der Mutter, das Kind zu trösten. Die Fähigkeit der Mutter, ihr Kind zu trösten, kommt nicht von der sprachgewandten linken Hemisphäre. Das Baby nutzt vielmehr den Ausdruck der rechten Hemisphäre der Mutter als Schablone für die Verdrahtung seiner eigenen rechten Hemisphäre.

Auf dem nächsten Dia schauen wir eine Abbildung des Gehirns eines zwei Monate alten Säuglings in dem Moment an, in dem das Kind das Gesicht einer Frau anschaut. Sie sehen, wie dabei die rechte Hemisphäre heller wird, nicht die linke. Diese synchronisierten emotionalen Transaktionen lösen auch Stoffwechselvorgänge im Säugling aus. Ich muss hinzufügen, dass auch das Gehirn der Mutter durch positive Erfahrungen beeinflusst wird. In einem Artikel in der Zeitschrift Nature wird berichtet, dass auch das Gehirn der Mutter wächst in diesen intensiven Momenten der Freude.

Im nächsten Dia sehen wir die Verbindung zwischen zwei lebendigen Körpern. Das komplexere Nervensystem der Mutter reguliert das sich entwickelnde System des Säuglings, denn in diesem Moment finden wir eine Verknüpfung in ihrem cardivaskulären, neuroendokrinen und autonomen Nervensystemen. Wir sehen durch diese Forschung immer deutlicher die entscheidende Bedeutung nicht nur des Denkens, sondern des Körpers in der Entwicklungspsychologie sowie auch des Körpers in der Psychotherapie, wo es ja vielfach um die interaktive Regulierung von emotionalen Zuständen geht. 

Umfangreiche Studien zeigen, dass ein Großteil der Regelmechanismen im Rechtshirn, nicht im Linkshirn zu finden sind. So will ich noch ein paar Worte über diese einmaligen Fähigkeiten dieser rechten Hemisphäre sagen.

Die rechte Hemisphäre ist dominant bezüglich der unbewussten Aufnahme des Ausdrucks und der Kommunikation von Emotionen. Das Rechtshirn beinhaltet so etwas wie ein Lexikon von Gesichtsausdruck, Ton der Stimme und Gebärden. Und dieses Lexikon wird aufgebaut und entwickelt in der Bindungsbeziehung. Wenn das Kind in den ersten zwölf Monaten seines Lebens das flache, ausdruckslose Gesichts einer depressiven Mutter angeschaut hat, dann hat es eine große Anzahl von Rezeptoren für depressive Gesichter, während die Prägung durch ein freudiges Gesicht andere Rezeptoren entwickelt.

Diese Studien mit den neuen bildgebenden Verfahren zeigen also, dass die rechte Hemisphäre dominant ist für die positiven Aspekte von Berührung, Geruch, Musik, Gesichtsausdruck, aber auch für die negativen emotionalen Aspekte von Schmerz. Ich sagte vorhin schon, dass das Rechtshirn mehr verbunden ist mit dem autonomen Nervensystem und damit mit dem Körper. Das sympathische und parasympathische System stimulieren die unwillkürlichen Körperfunktionen, die somatischen Anteile emotionaler Zustände: Herzbeschleunigung bei Angst, Enge der Kehle, und so weiter. An den Unterschieden in den Verbindungen des Rechts- im Vergleich zu denen des Linkshirnes erkennt man, dass das Rechtshirn verantwortlich ist für die Regulierung der physiologischen, endokrinologischen, neuroendokrinen, cardiovaskulären und Immun-Funktionen. Sie werden alle kontrolliert vom rechten Gehirn. Psychotherapie muss, um erfolgreich zu sein, diese Strukturen der rechten Hemisphäre erreichen.

Das Rechtshirn reguliert auch das, was wir primitive Emotionen nennen – Emotionen, die wir in den dysreguliertesten psychiatrischen Zuständen finden: Hass und Gewalt, Entsetzen, Scham, Ekel, hoffnungslose Verzweiflung, aber auch sehr intensive positive Emotionen, wie Aufregung und Freude.

Und schließlich ist die rechte Hemisphäre wesentlich beteiligt an den Überlebensfunktionen, die den Organismus befähigen, aktiv und passiv mit Stress fertig zu werden. Die Bindungsbeziehung gestaltet also die Ausreifung der Stressbewältigungssysteme, die vom Rechtshirn unterhalb der Schwelle des Bewusstseins aktiviert werden.

Derzeitige Hirnforschung legt nahe, dass während das Linkshirn linguistisches Verhalten vermittelt, das Rechtshirn verantwortlich ist für weitere Aspekte von Kommunikation (da ist ein riesiger Unterschied zwischen Sprache und Kommunikation). Und so haben wir heute schlüssige Beweise dafür, dass die rechte Hemisphäre dominant ist für Mitgefühl – die Fähigkeit, aus dem Gesicht eines anderen seinen Schmerz zu lesen, den emotionalen Zustand eines anderen Menschen zu verstehen, auch wenn der nicht in Worten ausgedrückt wird. Mitgefühl ist eine moralische Emotion und deshalb wirkt die Bindungserfahrung in den ersten zwei Lebensjahren direkt auf die neurologischen Substrate moralischer Entwicklung.

In einem neueren Überblick über die Neurologie der Persönlichkeit wurden folgende als die normalen Funktionen der rechten Hemisphäre benannt. Während ich Ihnen das vorlese, beachten Sie bitte, dass all diese Funktionen in den ersten 18 Monaten des Lebens entwickelt werden, in denen der Säugling ein Vokabular von vielleicht 15 Worten hat:

  • Die Fähigkeit, vertraute Mitglieder unserer Art am Gesichtsausdruck zu erkennen.
  • Vertrauen beim Erkennen eines Gesichtes. 
  • Die Fähigkeit, Körperstimuli wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
  • Die Fähigkeit, sich selbst in Beziehung zu bringen zur Wirklichkeit der Umgebung.
  • Die Fähigkeit, ein körperliches Gefühl für sich selbst und die Umgebung zu erkennen. 
  • Die Fähigkeit, ein durchgängiges und zusammenhängendes Selbstgefühl aufrecht zu erhalten.
  • Das Funktionieren eines körperlichen und emotionalen Selbst.
  • Das Erkennen und das Verarbeiten von bedeutungsvollen sozialen und emotionalen Informationen.
  • Die Fähigkeit, Mietgefühl zu haben mit den emotionalen Zuständen anderer Menschen.
  • Die Fähigkeit, aktiv und passiv Stress zu bewältigen. 
  • Die emotionalen Prozesse, die der moralischen Entwicklung zu Grunde liegen.
  • Die Wertschätzung von Humor – einer wichtigen Stressbewältigungsreaktion. 

Zum Ende des zweiten Lebensjahres schließt das Bindungssystem beide Eltern – Mutter und Vater – ein, was zu einer weiteren Differenzierung des Rechtshirns führt. Dieses Rechtshirn ist jetzt fähig zur Selbstregulierung, die zwei unterschiedliche Fähigkeiten einschließt: Interaktive Regulierung, die Fähigkeit, emotionale Zustände zu steuern durch Aufnahme von Verbindung mit anderen Menschen, und Selbstregulierung, die Fähigkeit, den Körperzustand zu regulieren in einem autonomen Kontext. Eine sichere Person hat die Fähigkeit, zwischen beiden hin und her zu wechseln. Das unterstützt ein inneres Gefühl von Sicherheit und Flexibilität, das von dem intuitiven Wissen kommt, dass man entweder aufgrund eigener Fähigkeiten oder innerhalb einer menschlichen Beziehung den Fluss seiner Zustände regulieren kann.

Nach Bowlby finden wir die Wurzeln für diese Elastizität in dem Gefühl, dass wir verstanden werden und existieren im Herzen und im Verstand eines liebenden und achtsamen Anderen.

Ich möchte schließen mit ein paar Gedanken über emotionale Entwicklung.

Die rechte Hemisphäre, dieses biologische Substrat des menschlichen Unbewussten, beendet zwar seine umfassendste Wachstumsphase am Ende des zweiten Jahres, doch es wächst weiter in späteren Lebensphasen, nur nicht so rapide. Aber seine Fähigkeit, später zu wachsen, hängt davon ab, wie es sich in der frühen Zeit entwickelt. So dass die frühen Bindungserlebnisse entscheidend sind für die spätere Fähigkeit, weiter zu wachsen. Und weiter hängt die Fähigkeit zu weiterer Entwicklung ab von emotionalen Erfahrungen, also nicht linguistischen oder intellektuellen Erfahrungen, sondern von innigen Beziehungen.

Ich habe mich in diesem Vortrag auf normale Entwicklung, sichere Bindung, optimale Rechtshirnentwicklung und die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, konzentriert. Wir sollten jedoch darauf hinweisen, dass eine Menge Forschung behinderte Rechtshirnfunktion bei jeder ernsthaften psychiatrischen und psychosomatischen Störung findet. Der exakte Gegensatz zu dem, was wir bis jetzt dargestellt haben, wäre die Entwicklung eines Säuglings, der sehr früh Mangel und Missbrauch ausgesetzt war, die verheerende Folgen für die Entwicklung des Rechtshirn haben (wobei Vernachlässigung schlimmer ist als Missbrauch). Es ist berichtet worden, dass die Fähigkeit, persönliche Bindungen aufrechtzuerhalten, entscheidend ist fürs Überleben.

Die Verbindung des Kindes zu Stimme und Geruch der Mutter können wir bereits beim Neugeborenen erkennen. Doch diese Fähigkeit, Vertrautes zu erkennen, kann später behindert sein durch frühen traumatischen Stress. Die Fähigkeit, Trost zu erleben, hängt ab von der frühen Funktion der rechten Hemisphäre.

Eingeschränkte Überlebensmechanismen behindern nicht nur psychologische, sondern auch biologische Funktionen. Wir sehen heute, dass sogar die Fähigkeit zum Widerstand gegen körperliche Krankheit beeinflusst ist durch die frühe Mutter-Kind-Beziehung. Wir haben inzwischen Studien, die frühe Bindung und cardiovaskuläre Erkrankung in Verbindung bringen. Andere Studien zeigen, dass frühe Bindung wichtig ist für den Umgang mit chronischer Krankheit, und die die Verbindung von frühem Kindsmissbrauch auf die Mortalität von Erwachsenen dokumentieren.

All diese Ergebnisse führen mich zu der Schlussfolgerung, dass die rechte Hemisphäre, nicht die linke, im Menschen die dominante ist. So dass die Rechtshirnentwicklung in der frühen Zeit wesentlich ist für die Ausweitung der Persönlichkeit im Lauf des Lebens.