Die Seinsdimension in der Potentialorientierten Psychotherapie

Erscheinungsjahr:
2007
Autor/Autorin:

Potentialorientierte Psychotherapie
Potentialorientierte Psychotherapie ist weniger Behandlung der Seele als Heilung mit den Mitteln der Seele. Potentialorientierte Psychotherapie ist auch nicht reduziert auf die Wiederherstellung des Zustandes vor der Therapie, also des Zustandes, an dem wir krank geworden sind, sondern als Begleitung auf dem Weg zu unserer wahren Natur, für deren Verkennung körperliche und seelische Symptome nicht selten ein Hinweis sind.

Potentialorientierte Psychotherapie ist zunächst tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Wir arbeiten an der Beziehung im Spannungsfeld von Übertragung und Gegenübertragung und am Widerstand gegen Veränderung der Beziehung. Ein zentrales Moment in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist der innere Konflikt zwischen den beiden Merkmalen alles Lebendigen: Gestaltpermanenz und Gestaltwandel. In einer konfliktreichen Sozialisierung hemmt oder unterdrückt die heranwachsende Kindsperson die Lust am seelischen Wachstum, am Gestaltwandel, um den bisher erreichten Entwicklungsstand zu sichern, das heißt zugunsten der Gestaltpermanenz. In der Struktur der Seele wird der Impuls zum Gestaltwandel repräsentiert durch die Kinderseele, die Neigung zur Gestaltpermanenz durch das Über-Ich. In einem nie enden wollenden inneren Konflikt zerrt auf der einen Seite die Kinderseele an uns mit ihren unbefriedigten Wünschen: "Ich will meinen Sex, mein Mittagessen (die Mutterbrust) jetzt, sofort!", "Das ist nicht fair!", "Null Bock" und so weiter – auf der anderen Seite setzt uns mit der den Zeigefinger schwingenden Instanz des Über-Ich ständig unter Druck: "Sei still", "Warum musst Du immer wieder?", "Mach endlich!", "Du bringst es nicht!", und so weiter bis hin zu "Eigentlich solltest Du schon viel weiter sein" – das vor allem. Der Widerstreit in unserer Seele zwischen diesen beiden inneren Stimmen, die allemal Reaktionen auf Vergangenes sind, hindert uns in der Gegenwart an der Wahrnehmung und der Entfaltung unserer Möglichkeiten.

Die Organisation der inneren Konflikte und der damit verbundenen Widerstände bestimmt die Struktur unserer Persönlichkeit. Die Verkörperung unserer Persönlichkeitsstruktur in Haltung, Mimik, Gesten, Atmung und anderen körperlichen Manifestationen nennen wir Charakter (gr.: das Geprägte). Dementsprechend gehört die körperpsychotherapeutische Arbeit am Charakter mit dem Ziel der Lösung aus behindernden körperlichen wie seelischen Fixierungen einerseits und der Vermittlung der Erfahrung von Entfaltungsspielräumen andererseits ebenfalls zum Repertoire einer potentialorientierten Psychotherapie.

In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie spielt heute die sogenannte Bindungstheorie eine große Rolle, die postuliert, dass die Art und Weise, wie wir

  • Beziehung leben, dabei 
  • rhythmisch zwischen Autonomie und Interdependenz wechseln, 
  • mit Stress umgehen, 
  • Zuversicht, Humor, Resistenz und Resilienz sowie ein kohärentes Selbstbild entwickeln und 
  • Werte bilden jenseits der gängigen Moralvorstellungen, 

in den ersten beiden Lebensjahren angelegt wird.

Die Hirnforschung bestätigt die therapeutische Erfahrung, dass Menschen – wenn auch mit erheblichem Widerstand – nachreifen können. Allerdings verlangt die Aussicht auf Nachreifung von uns ein Opfer. Wir sind ohne Zweifel durch die Bedingungen der frühen Lebenszeit geprägt (konditioniert).

Diese Konditionierung beschränkt uns im weiteren Verlauf bis in die Gegenwart in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln, doch selbst wenn diese Einschränkung mit Stagnation der Selbstverwirklichung, verminderter Lebensqualität oder gar Elend und Krankheit verbunden ist, so ist sie doch vertraut und bietet damit scheinbar Sicherheit. Je weniger dem Wesen des Kindes entsprechend die Konditionierung war, desto mehr Widerstand wird der Erwachsene gegen Veränderung mobilisieren. Therapie verlangt von uns jedoch, dass wir bewährte Sicht- und Verhaltensweisen in Frage stellen. Das kann, ja muss zwangsläufig strukturspezifischen Widerstand auslösen, der sich in entscheidenden Momenten, zum Beispiel in einer Selbsterfahrungsgruppe, als die Befürchtung äußern kann, man habe schon viel zu viel Zeit in Anspruch genommen, man sei den anderen lästig, sie langweilten sich oder würden ungeduldig und so weiter, was sich in vielen Fällen als eine Übertragung aus früher Zeit in die Gegenwart erkennen lässt.

Identifikation und Identität
Ein Thema, das mich besonders interessiert, ist das Verhältnis zwischen Identität und Identifikation. Identität bedeutet: Ich bin der ich bin – ich bin der, den Sie unvoreingenommen hinschauend in diesem Moment sehen und den ich selbst in diesem Moment erlebe. Was wir darüber hinaus über mich zu wissen glauben, ist Identifikation: Geboren am und in, Sohn von dieser und jenem, Bruder von, Vater von, Besitzer von, Schüler von, Gründer und Leiter von ... alles Identifikation.

Ich unterscheide drei Arten der Identifikation (lat: idem facere, das Gleiche tun, zum Gleichen machen): zum einen der Prozess, in dem wir uns etwas zu eigen machen, das uns inbildhaft eingeboren ist, wie Dürckheim mit Meister Eckhart sagte; zum anderen der Mechanismus, immer wieder dasselbe zu tun und uns damit immer wieder zum selben zu machen; und schließlich die Identifikation mit Vorgängern im Familiensystem, deren Schicksal nicht so gewürdigt wurde, wie es war.

Für Augustinus war Identifikation der Prozess der Aneignung der Tugenden, die uns als Gnadengaben eingeboren sind wie bei Maslow die Potentiale. Menschen sind zur Menschlichkeit – zum aufrechten Gang ebenso wie zur Ästhetik, zum Gerechtigkeitssinn, zur Wahrheitsliebe, zum Dienst an der Gemeinschaft ebenso wie zur Transzendenz und so weiter – begabt, doch für die Entwicklung dieser Begabungen brauchen wir Vorbilder, die wir nachahmen können; indem wir das gleiche tun wie unsere Vorbilder, eignen wir uns deren Tugenden an.

Eine zweite Form der Identifikation ist die mit den Selbstbildern, die wir uns in Reaktion auf die uns sozialisierende und konditionierende Umgebung von uns selbst machen lernten; sie ist ein Bündel von Reaktionen auf persönlich erlebte Geschichte. Um uns als heranwachsende Personen ein erträgliches Minimum an Akzeptanz, Zuwendung, Zugehörigkeit, Schmerzfreiheit und so weiter zu sichern, entwickelten wir im Laufe unserer früheren Sozialisierung durch Unterwerfung unter die herrschenden Bedingungen (Konditionierung) Einschränkungen in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln. Indem wir immer wieder dasselbe tun, meinen wir, wir könnten dieselben bleiben.

Eine dritte Form der Identifikation ist die von Bert Hellinger und seinen Schülern beschriebene, bei der sich Nachkommen identifizieren mit Vorgängern im Familiensystem, deren schweres Schicksal oder große Schuld nicht gewürdigt wurde.

Alle drei Formen der Identifikation führen zur Selbstentfremdung. In der Identifikation mit Vorbildern, mit Selbstbildern und mit Vorgängern im Familiensystem halten wir uns für jene Persönlichkeit, die zu sein wir vorgeben, und werden uns selbst fremd. Wir verlieren den Zugang zu unserem Wesen, dem persönlichen Inbild unserer menschlichen Natur. Zugleich versagen wir uns unsere Autonomie (die Eigengesetzlichkeit) und leben mehr oder weniger fremdbestimmt. Auch die Identifikation und die damit verbundene Selbstentfremdung ist ebenso wie die oben genannten Formen des Widerstands gegen heilsame Beziehung und gegen die Erfahrung der Gegenwart mit Muskelkraft geleistete Arbeit.

Gemäß den Mythen der unterschiedlichsten Kulturen ist die Selbstentfremdung Bedingung für die Entwicklung von Selbstbewusstheit und damit naturgegebenes oder gottgewolltes menschliches Schicksal: Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben, um den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen; im Zen-Buddhismus finden wir die Metapher vom Hirten, der seinen Ochsen verliert und ihn sucht, bis er ihn wieder findet, ihn reiten lernt und schließlich eins mit ihm wird. ... und ... Im Gleichnis vom verlorenen Sohn verlässt dieser seine Heimat, erinnert sich, nachdem er in der Fremde genug gelitten hat, kehrt wieder heim und wird vom Vater dem braven Sohn, der daheim geblieben ist, vorgezogen. In der Sufitradition kommt dem Königssohn der Mantel abhanden, der seine königliche Abstammung bekundet, seine Herkunft wird von ihm selbst ebenso wie von den anderen verkannt, und erst als er die Perle – ein Symbol für das wahre Selbst – findet, erinnert er sich an die Heimat und kehrt zurück in sein abgestammtes Königreich.

Die Kränkung
Die Selbstentfremdung ist verbunden mit dreierlei Kränkung.
Die primäre Kränkung ist die, dass die Person sich nicht erinnern kann, wie sie gleich zu Beginn des Lebens als ein neues Lebewesen in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen wird, als es im Blick der Mutter ankommt, die mit dem Leuchten in ihren Augen sagt: "Wie schön, dass Du da bist!" in der ausschließlichen Ich-Du Beziehung im Sinne Bubers: "Du da! Du wie nie zuvor eine, seit es Menschen gibt. Du wie keine, solange es Menschen geben wird. Du wie keine unter sechs Milliarden Menschen – willkommen!" Vielmehr erinnert sie sich, unbewusst zumeist, wie sie objektiviert wurde, verdinglicht zum verfügbaren Gegenstand, zum Objekt von Projektionen, von Erwartungen und Befürchtungen: Ersehntes erstes Kind, Ersatz für ein verstorbenes Geschwister, Stammhalter, Nachfolger auf dem Thron oder in der Firma; "Mein Kind!", "Ganz der Papa!", "Endlich eine Tochter!", "Hoffentlich nicht wie der missratene Onkel Emil!", und so weiter.

Die sekundäre Kränkung ist später die, als die Persönlichkeit gesehen zu werden, die man in der Identifikation mit einem Selbstbild oder Image zu sein glaubt, vorgibt oder scheint, statt im Wesen als die Person gesehen, wahrgenommen und gewürdigt zu werden, die man ist. Die folgende Kränkung kann man oft bei Frauen hören: "Mein Mann sieht mich gar nicht!" Wenn man dem dann in der Psychotherapie nachgeht, war es schon beim Vater so. Und dann kann man bisweilen entdecken, dass die Tochter gesehen werden wollte, nicht wie eine Tochter vom Vater, also von oben nach unten, sondern so, als wäre sie auf Augenhöhe mit ihm, auf gleicher Ebene wie eine Gleichrangige. Dahinter entdeckt man dann oft eine Identifikation der Tochter mit der Frau des Vaters vor der Mutter. Die hatte den Anspruch, mit dem Vater auf Augenhöhe zu verhandeln. Solange die Tochter sich in dieser Identifikation mit einer anderen präsentiert, kann sie nicht gesehen werden als die, die sie ist: Das Kind.

Die dritte Art der Kränkung ist die, nicht als die Persönlichkeit gesehen zu werden, in deren Darstellung man ein Leben lang so viel investiert hat.

Zur Abwehr sowohl von erinnerter wie von erwarteter Kränkung bedient sich die Persönlichkeit der im Charakter eingefleischten Struktur. Die automatisierte Abwehrhaltung sorgt dabei immer wieder für neue Kränkung. Da die Defensive nur Sinn macht angesichts eines Angreifers, fantasieren wir in der Abwehrhaltung vorauseilend einen möglichen neuen Angriff, was vom Gehirn dann wie ein tatsächlicher Angriff verarbeitet wird und damit die Struktur weiter verfestigt. Einen Ausweg aus diesem Teufelskreis bieten erfahrungsorientierte Therapieverfahren, die – wie zum Beispiel die Gestalttherapie – durch ihre Konzentration auf die Gegenwart eine Chance auf Einprägung von ergänzenden, im Wortsinn heilsamen (ahd. heil: ganz) Alternativerfahrungen bieten.

Humanistische Psychologie
Potentialorientierte Psychotherapie orientiert sich theoretisch an der Humanistischen Psychologie. Diese wurde in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Klinikern und Humanwissenschaftlern begründet als Dritte Kraft in Abgrenzung und Ergänzung zu den seinerzeit die Psychologie beherrschenden Richtungen des Behaviorismus und der Psychoanalyse, deren Reduktionismus und Determinismus ihrer Ansicht nach der Komplexität des Menschseins nicht gerecht wurden. Zu den Gründervätern gehörten unter zahlreichen anderen (auch Gründermüttern wie Charlotte Bühler): Rollo May mit seiner Orientierung an den menschlichen Ressourcen und der Intentionalität; Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, den die Erfahrungen im Konzentrationslager zur Auseinandersetzung mit der Menschenwürde und der Frage nach dem Sinn motivierte; Roberto Assagioli, der eine spirituelle Identität postulierte, sich für die Seelenqualität des Willens interessierte und die Psychosynthese entwickelte; Carl Rogers, der die Reifung der Person auf dem Lebensweg studierte und die Klientenzentrierte Therapie entwickelte – und vor allen anderen Abraham Maslow.

Maslow ging in seiner wissenschaftlichen Arbeit der Frage nach, was das eigentlich Menschliche am Menschen sei. Um das heraus zu finden, studierte er die Lebensweise und das Erleben von hervorragenden Menschen, die in ihrem Umfeld als beispielhaft menschliche Personen hohes Ansehen genossen. Die Beobachtung, dass die konfliktfrei und selbstverständlich erlebte Befriedigung primärer Bedürfnisse – wie Hunger, Beachtung, Schutz, Territorial- und Sexualtrieb, Status, und so weiter –, die unser Verhalten wie das anderer Säugetiere bestimmen, die Voraussetzung war für die Aktualisierung von spezifisch menschlichen, höheren oder Metabedürfnissen, führte zur Formulierung der Hierarchie der Bedürfnisse. Mit seiner Schlussfolgerung, dass Menschen differenzierte Menschlichkeit und Kultur nicht durch Triebunterdrückung, sondern durch bewussten und freiwilligen Triebverzicht entwickeln, widersprach Maslow dem Postulat von Sigmund Freud, der die Voraussetzung für kulturelle Entwicklung in der Triebunterdrückung sah.

Bei Maslow steht Geistigkeit nicht im Widerspruch zur Natur, sondern ist wie andere Aspekte, die wir der Menschlichkeit zuordnen, wesentlicher Ausdruck menschlicher Natur. Des Menschen eigentliche Natur ist seine Menschlichkeit. Die höheren oder Wachstumsbedürfnisse sind jedoch von schwächerer Durchsetzungskraft als die primären oder Mangelbedürfnisse, weshalb ihre Verwirklichung der bewussten Entscheidung und des nachhaltigen Wollens bedarf. Die Verwirklichung des sogenannten höheren Strebens kann in dem Maß als Wert, als Notwendigkeit und als Auftrag erlebt werden, in dem die Grundbedürfnisse der Person nicht durch Konditionierung verbogen wurden und infolgedessen – frei von Reaktionen auf von Schmerz und Mangel geprägte Vergangenheit – als selbstverständlich befriedigbar erlebt werden.

An dieser Stelle scheint es mir notwendig zu betonen, dass ich – im Gegensatz zu einer heutzutage nicht nur in der Humanistischen Psychologie verbreiteten Tendenz – auch das Böse in all seinen Facetten zum spezifisch menschlichen Potential rechne. Zur Menschlichkeit gehören auch der Hochmut, die Habgier und die Grausamkeit, und für die Entfaltung auch dieser Untugenden brauchen wir Vorbilder – ihre Kinder missbrauchende Eltern waren selbst meist missbrauchte Kinder. Unsere Bosheit ist nicht nur als Reaktion auf erlittenes Böses zu verstehen. Damit wir unsere Bosheit entfalten können, muss sie als Potential angelegt sein, durch Vorbilder stimuliert und durch Nachahmung eingeübt sein. Zum menschlichen Weltbild gehört auch der Widersacher-Gott, der diabolos, der alles durcheinander wirbelt und als lucifer, der das Licht bringt, dafür sorgt, dass wir Bewusstsein entwickeln, indem wir den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennen.

Selbstverwirklichung
Nach Maslow ist des Menschen höchstes Streben das nach Selbstverwirklichung: die zu werden, die wir wirklich sind; uns von der zur Besonderheit konditionierten Struktur der Persönlichkeit zu lösen und uns die Person werden und sein zu lassen, als die wir vom Wesen her gemeint sind; uns wissen zu lassen, worum es in unserem Leben geht, dieses Wissen im Alltag umzusetzen und dabei zu einer selbstbestimmten, selbstbewussten und eigenartigen Person zu reifen.

Im Film Amadeus von Milos Forman wird Mozart dargestellt als ein Musterbeispiel eines Selbstverwirklichers: Er ist nichts Besonderes – er isst und trinkt und schläft und beischläft und wird irgendwann, irgendwo verscharrt – doch er ist eigenartig und einzigartig, er ist sich dessen bewusst und lebt danach – ohne nachzudenken und zu schauen, ob er’s richtig macht, ob er etwas Besonderes zustande bekommt, ob es dem Kaiser wohl gefällt, und so weiter.

Den polaren Gegensatz zur Bewegung der Selbstverwirklichung nenne ich (wie vor mir Viktor von Weizsäcker) Normopathie, das Leiden an der Stagnation der in der Normerfüllung Befangenen. Auch das ist wunderbar dargestellt im Film in der Figur des Salieri. Als Mozart ihm sein eigenes Requiem in die Feder diktiert, will Salieri immer wieder korrigieren, etwas richtig machen, und so weiter. Doch Mozart sagt sinngemäß: "Nein, nein, wenn ich es doch so höre!" Mozart ist ein gehorsamer Mensch; er hört auf das, was Gott ihm eingibt, und schreibt einfach mit, was er ihm diktiert. Salieri hingegen strebt Besonderheit an. Er will etwas Besonderes werden in Abgrenzung von der spießigen Norm seines Vaters, bleibt damit an der Norm orientiert und ist infolgedessen zur Mittelmäßigkeit verurteilt. Salieris innerer Konflikt wird – zutiefst bewegend – gegen Ende des Films folgendermaßen dargestellt: Salieri predigt den Irren in der Anstalt, in die er nach einem Suizidversuch gebracht wurde, vom Rollstuhl aus das Hohelied der Mittelmäßigkeit.

Die Dimension des Seins
Mit der Dimension des Seins ist nicht allein die Fülle aller Erscheinungen gemeint, sondern vor allem die erlebte Präsenz einer erfahrbaren Wirklichkeit jenseits aller mit Sinnen und Verstand erfassbaren Realität. Sie hat die Qualität des Numinosen in seiner zugleich wunderbaren, erschreckenden und faszinierenden Wirkung. Die Dimension des Seins ist die Unendlichkeit – nur die Gegenwart hat keinen Anfang und kein Ende. Die ihr angemessene Haltung ist kindlich: Neugier, Staunen, Ehrfurcht und Gehorsam. Dazu Jesus: "So Ihr nicht werdet wie die Kinder, Ihr werdet das Himmelreich nicht erlangen."

Die von Maslow untersuchten Selbstverwirklicher berichteten gehäuft von Durchbrüchen in eine andere, eine grundlegende und maßgebende, die Alltagsrealität sowohl umfassende wie übergreifende Wirklichkeit. Diese von Dürckheim sogenannten Seinsfühlungen bewirken, wenn sie bewusst wahrgenommen werden, bei den Betroffenen eine veränderte Ausstrahlung, haben auf Verwandlung drängende Kraft und fordern zu der Entscheidung auf, das Leben im Alltag danach auszurichten.

In diesen von Maslow sogenannten Gipfelerlebnissen erfuhren die Betroffenen eine Lösung von den Bedingungen des Alltags, tiefes Einverständnis mit allem, was so ist wie es ist, Freiheit von jedem Zweifel, selbstverständliche Sicherheit, so etwas wie Glückseligkeit sowie die Gewissheit, für einen Moment die reine Wahrheit gesehen zu haben. Diese erlebte Wirklichkeit war selbstevident, sie bedurfte keiner Verifizierung oder Falsifizierung, und sie wurde für diejenigen, die sie erlebten, zum Maß für alle Realität. Später fand Maslow heraus, dass nicht nur die Selbstverwirklicher, sondern auch ganz normalneurotische Menschen von Gipfelerlebnissen berichteten, diese jedoch so schnell wie möglich verdrängten, weil sie sie für Momente vorübergehender Umnachtung hielten.

Während des Medizinstudiums arbeitete ich gelegentlich als Nachtpfleger auf einer Intensivstation. Dort habe ich viele Menschen im Sterben begleitet und durfte dabei beobachten, wie bei diesem Prozess nicht selten eine faszinierende Verwandlung sowohl bei den Sterbenden wie auch in ihrem Umfeld eintritt: Die Zeit steht still, der Raum weitet sich und die sterbende Person, nachdem sie das Kämpfen gegen ihr Leben, zu dem das Sterben gehört, aufgegeben hat, wirkt gelassen und einverstanden; sie leuchtet und wird auf eigenartige Weise schön. Der Raum ist trotz allem Klicken und Ächzen der Geräte von einer tiefen Präsenz und Stille getränkt, und am Prozess beteiligte Personen, wenn sie in der Selbstwahrnehmung geübt sind, können sich leicht, hell, wach, gelassen, durchlässig, still und voller Ehrfurcht fühlen. Aus körperpsychotherapeutischer oder psychosomatischer Sicht können wir den Vorgang so verstehen, dass die sterbende Person ihre im Charakter fixierte Persönlichkeitsstruktur und damit den Widerstand gegen ihr persönliches Leben bei abnehmender Muskelkraft nicht mehr aufrechterhalten kann. Auch für den Begleiter, sofern er dem Sterben zustimmen kann, gibt es in diesem Moment nichts mehr, womit er sich identifizieren muss. Er braucht nichts mehr zu wissen, zu können, in der Hand zu haben oder zu tun, außer als Zeuge des Seins dabei zu sein auf einer ganz offenbar entscheidenden Wegstrecke im Dasein eines einzigartigen Menschen. Diesen ganz subjektiven Beobachtungen entsprechen Ergebnisse der ausgedehnten Forschung zum sogenannten Nahtoderleben von Menschen, die nach der Feststellung des klinischen Todes reanimiert wurden und in der Mehrzahl von sehr ähnlichen Durchgängen wie die Selbstverwirklicher und die Sterbenden berichten.

Dürckheims Seinsfühlungen, Maslow Gipfelerlebnisse, die Schilderungen von Nahtoderlebnissen sowie die Erlebnisse derer, die in der Meditation oder in der bewussten Anteilnahme am Prozess des immer währenden Wandels im Leben das Sterben üben und den sogenannten Ich-Tod erfahren, verweisen ebenso wie die Berichte über spontane Initiationen der Adepten der östlichen Traditionen in bisweilen bemerkenswert gleich lautenden Formulierungen auf eine Wirklichkeit jenseits unserer Alltagsrealität.

Die in den religiösen oder philosophischen Traditionen vorzufindende Unterscheidung zwischen dem Bereich des Lebens, aus dem wir stammen, und dem, in dem wir leben – in Luthers Bibelübersetzung das Himmelreich und diese Welt – spiegelt sich in der Unterscheidung der Begriffe Wirklichkeit und Realität. Die Realität (von lat. res: die Sache) ist die Welt der Sachen und der Tatsachen, der Fakten, das heißt der Sachen, die wir tun (lat. facere: machen, tun). Die Wirklichkeit ist das, was wirkt – sie bewirkt die Realität.

Graf Dürckheim wurde nicht müde daran zu erinnern, dass das Verhältnis von objektiv definierter Realität zu subjektiv erfahrbarer Wirklichkeit sich widerspiegelt in der Unterscheidung zwischen dem Vorhandensein als Körper, den ich habe, und dem Sosein als Leib, der ich bin. Der physische Körper, den ich habe, ist definierbar durch objektive Parameter; die Dimension verkörperten Seins als beseelter Körper oder als Leib erschließt sich hingegen nur dem fühlenden Erleben. Sie ist ebenso wenig objektivierbar wie die Liebe oder eine Reise. Räumliche Ausdehnung, Zeitdauer, Hormonausschüttung, Herzfrequenz, Hirnströme und andere physiologische Begleiterscheinungen mögen für einen um Objektivität bemühten Wissenschaftler von Interesse sein. Für das subjektive Erleben hingegen sind solche scheinbar objektiven Parameter so irrelevant wie die Länge des Schienennetzes für die Tiefe des Erlebens einer Reise.

Auf der individuellen Ebene finden wir die Polarität von Wirklichkeit und Realität im Verhältnis der Person zur Persönlichkeit wieder. Die Person ist ein Mensch, durch den das Sein als persönliches Wesen hindurch klingt (lat: personare). Die Persönlichkeit hingegen ist jemand, der etwas darstellt, ein Darsteller also, wie Shakespeare in der Formulierung des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges, der von ihm sagte: "Damit seine Niemandverfassung nicht auffiele, hatte er sich bereits angewöhnt so zu tun, als wäre er jemand", und weiter: "In London ergriff er den Beruf, für den er prädestiniert war, den des Schauspielers, und tat auf einer Bühne so, als wäre er ein anderer, vor einer Ansammlung von Leuten, die so taten, als hielten sie ihn für jenen anderen". Shakespeare allerdings (in meiner Fortsetzung der Geschichte) hängt, sobald der Vorhang zum dritten Mal gefallen und das Klatschen verklungen ist, seine Verkleidung, die ihn als King Lear, Macbeth oder Richard III ausweisen, an den Nagel und lässt es sich in der nächsten Schenke als der Willi, der er ist, gut gehen. Wir hingegen identifizieren uns als Persönlichkeit mit den Rollen, die wir auf der Bühne unserer Kindheit spielen lernten, halten unser Rollenspiel für uns selbst, den Schein für das Sein und die gespielte Realität für die Wirklichkeit. Da die Identifikation mit dem Rollenspiel weder unserer wahren Natur noch unserem aktuellen Sein entspricht, brauchen wir, um sie aufrecht halten können, ständige Bestätigung in Form von Spiegelung durch die Umwelt – wie der Schauspieler, dessen Existenz davon abhängt, dass er ein Publikum hat. Dabei scheint es wichtiger zu sein, dass dieses überhaupt reagiert als wie es reagiert; lieber Buh-Rufe und faule Eier als gar keine Reaktion.

Das Sein im Dasein erfahren lernen

Um das Rollenspiel der Persönlichkeit durchschauen, uns aus der Identifikation wie aus der Abhängigkeit von ständiger Bestätigung durch tatsächliche oder fantasierte Beachtung von außen lösen und als Person reifen zu können, brauchen wir eine Perspektive auf unser Rollenspiel, wie sie der Zuschauer im Theater hat. Einen solchen Sitz im Zuschauerraum bietet uns der Kontakt mit jener unbedingten Wirklichkeit jenseits der verdinglichten Realität, den uns die Seinsfühlungen bzw. die Gipfelerlebnisse erschließen. Auch wenn wir uns charaktergebunden immer aufs Neue im gleichen Theaterstück wiederfinden, können wir doch in der Meditation wie im Alltag üben, immer wieder eine Position einzunehmen, von der aus wir wahrnehmen können, dass wir in Reaktionen auf Vergangenes befangen sind, und uns schon allein dadurch, wenn auch nur vorübergehend, aus diesen Reaktionen lösen und uns bewusst mit dem gegenwärtigen Sein verbinden.

Die Aufgabe eines potentialorientierten Psychotherapeuten wäre demnach, aufgrund eigener Erfahrung

  • unterscheiden zu können zwischen religiösem Wahn und gültiger spiritueller Erfahrung, zwischen Paranoia und Metanoia (Sinneswandel), wie Ronald Laing in einer persönlichen Mitteilung einmal sagte, zum Beispiel mithilfe der oben genannten Kriterien Graf Dürckheims (Ausstrahlung, Kraft, Entscheidung),
  • seine Patienten in der Wahrnehmung spontaner Durchbrüche in die primäre Wirklichkeit zu bestätigen,
  • transzendente Erfahrungen in der Therapie zuzulassen oder gar zu fördern und 
  • nach Behebung der Störungen von Krankheitswert die Therapie zu beenden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, das Bedürfnis nach Vertiefung der spirituellen Erfahrung und nach ihrer Verankerung in einem darauf hin ausgerichteten Alltag in einer spirituellen Schule weiter zu verfolgen.

Bereits Wilhelm Reich hatte beobachtet, dass die Lösung des Charakterpanzers mittels konsequenter Charakteranalyse einschließlich der gezielten Arbeit an Haltung und Atem ozeanische Gefühle auslösen konnte entsprechend dem oben geschilderten Erleben von der Einheit allen Seins in den Gipfelerlebnissen.

Im Westen hat Graf Dürckheim als einer der ersten die Seinsdimension in die Psychotherapie eingeführt. Er erinnerte seine Schüler an herausragende Momente in ihrem Leben, in denen sie bewusst und hellwach in einem anderen Bewusstseinsraum waren, aller Alltagsnot enthoben, frei von Zweifel, offen und staunend gegenüber dem Wunder des Daseins und im Innersten zutiefst berührt – und ganz still. In der von ihm begründeten Leibtherapie betrieb Dürckheim konsequent das Therapieziel der Transparenz für die Transzendenz.

Heute finden wir im Diamond Approach von Ali Hameed Almaas eine ausgefeilte Methodik der Selbsterkundung durch konsequente Auseinandersetzung mit den Objektbeziehungen und dem Narzissmus mit dem einen Ziel, die Entfremdung der Person von ihrer wahren Natur durch Öffnung für die Präsenz des Seins im Dasein zu überwinden.

Die Erfahrung der Selbstverständlichkeit des eigenen Daseins ist Voraussetzung zunächst für die Bildung einer stabilen Ich-Struktur, dann aber auch für die erneute Öffnung zum Sein. "Um sein Ich transzendieren zu können, muss man erst einmal eins haben", sagte Graf Dürckheim bei Gelegenheit im Gespräch. Bodenlose Jenseitigkeit hat mit Spiritualität wenig zu tun, sie erscheint eher wie eine vorgeburtliche Regression. Um in der Welt bestehen zu können, brauchen wir eine Ich-Struktur, und die entwickeln wir in der Beziehung zu dieser Welt. Das Problem ist nicht die Ich-Struktur, sondern die Identifikation mit ihr – ob wir eine Struktur haben oder ob sie uns hat.

Wir begegnen heute in den Gruppen und Therapiestunden immer häufiger Menschen, die sich, so wie sie sind, im Dasein nicht willkommen fühlen. Diese Menschen brauchen zunächst Bestätigung ihres Daseins durch uneingeschränkte Beachtung sowie unsere Bereitschaft, ihnen zuzuhören wie die Protagonistin in Michael Endes Roman Momo. Momo kann zuhören in einer Weise, die die Menschen, die zu ihr kommen, so sein lässt wie sie sind, sodass sie ihr Sosein im Dasein zunächst einmal selbst akzeptieren und trotz aller menschlichen Unvollkommenheit in seiner Einmaligkeit wertschätzen lernen. Unser aufmerksames, teilnahmsvolles, vorbehaltloses Zuhören scheint eine unerlässliche Vorraussetzung für unsere Patienten zu sein für das Loslassen – die Lösung von aller Identifikation und die Hingabe an das Sein. Das ist leichter gesagt als getan. Wenn man dressiert ist als Perfektionist, fällt es einem schwer, sich so zu nehmen, wie man ist. Da kann die ausdrückliche Erlaubnis zur Unvollkommenheit gut tun, die federführende Anonyme Alkoholiker in ihrem Büchlein Die Spiritualität der Unvollkommenheit folgendermaßen formulieren: "Ich bin nicht völlig in Ordnung, Du bist nicht völlig in Ordnung, und das ist völlig in Ordnung".

Eine Lösung aus dem Leiden an den Fixierungen der Persönlichkeit ist das Sterben am Ende des körperlichen Überlebens. Nicht alle von uns wollen allerdings bis zum bitteren Ende an sich vorbei leben und auf die Erlösung aus dem Charakterpanzer der Persönlichkeit warten, vor allem, wenn sie einmal in einer Seinsfühlung mit ihrer wahren Natur bewusst in Kontakt gekommen sind. So ist es seit Urzeiten das Ziel der Adepten in den geistigen Schulen, schon zu Lebzeiten zu sterben, das heißt, über die Identifikation mit einem durch Körperhaut und persönliche Geschichte definierten Einzelwesen hinaus zu wachsen.

Um wirkliche Erfahrung zuzulassen, muss die Persönlichkeit ihre defensive Haltung aufgeben und sich der sich ewig wandelnden Gegenwart öffnen. Wilhelm Reich schon begründete nachhaltigen Widerstand mit der Angst vor der Freiheit. Ohne Charakterpanzer sind wir wie die Kinder, wie Jesus uns zu sein empfahl, wenn wir das Himmelreich erlangen wollten: unvoreingenommen anwesend, vorbehaltlos offen. Wenn wir uns so sein lassen, können in der Charakterstruktur gebundene Emotionen freigesetzt werden und zu einer umfassenden Regression führen, was als Gesichtsverlust und Imagekränkung verbunden mit dem drohenden Verlust der Zugehörigkeit werden kann.

Die verbreitete Angst vor dem Sterben dürfte auf die für materialistische Weltsicht charakteristische Identifikation mit dem Körper zurückzuführen sein. Dementsprechend können wir die Angst vor der Aufgabe der Identifikation mit der Persönlichkeitsstruktur, dem symbolischen Sterben, mit der Angst vor deren Lösung aus den Fixierungen des Charakterpanzers erklären. Ich bin natürlich nicht nur mein Körper – ich bin verkörpert – eine Seele, die sich in dieser Verkörperung entwickelt, ihre Gestalt und ihren Ausdruck findet. Für Viktor Frankl ist Selbsttranszendenz – das uns eingegebene Bedürfnis, über uns selbst hinaus zu wachsen – die anthropologische Vorraussetzung für menschliche Existenz schlechthin – das, was Menschsein eigentlich ausmacht. Von der Wiege bis zum Grabe, vom Embryo über Säugling, Krabbel-, Klein- und Schulkind ... Liebhaber, Ehepartner, Vater oder Mutter ... Schüler, Werktätiger, Rentner, Greis ... bis hin zum Leichnam sind wir einem ständigen Formwandel unterworfen. Stanley Keleman meinte einmal, durch die bewusste Teilnahme an diesem Prozess von immerwährendem Vergehen und neuer Inkarnation würden wir als Personen reifen, ohne sie jedoch nur altern.

Fühlen
In diesem Prozess der Selbsttranszendenz, in dem wir die charakterspezifischen Einschränkungen in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln überwinden dadurch, dass wir uns auf ergänzende Erfahrungen einlassen, kommt dem Fühlen eine besondere Bedeutung zu. Dabei ist mit Fühlen die von C. G. Jung beschriebene seelische Wertungsfunktion gemeint, dank derer wir einem Erregungsprozess eine der gegenwärtigen Situation oder Beziehung entsprechende Bedeutung geben.

Meist erleben wir erheblichen Widerstand gegen das Fühlen. Menschen wollen zwar, dass man ihnen den Pelz wäscht, aber sie wollen dabei möglichst nicht nass werden. Jede Einladung, sich auf eine neue Erfahrung einzulassen, ist mit einer gewissen Unsicherheit verbunden. Lebendigkeit ist letztlich immer unsicher. Sicherheit und Lebendigkeit sind Pole auf einem Kontinuum. Am einen Ende finden wir die Kiste: Zwei Meter lang, siebzig Zentimeter breit, fünfzig hoch, und je nach Wohlstand aus Fichte oder Eiche – todsicher; am anderen Ende der Surfer auf seinem Brett am Kamm der Welle, der so gut wie tot ist, wenn er auch nur den Hauch eines Gedankens an Sicherheit verschwendet, weil er in diesem Moment nicht mehr in unmittelbarer Beziehung ist mit der Welle und nicht mehr angemessen reagieren kann.

In der Identifikation glauben wir, dass die Selbstbilder, die uns so vertraut sind und scheinbare Sicherheit geben, uns ausmachen. Wenn wir beharrlich aufgefordert werden wahrzunehmen, wie wir uns fühlen, wird deutlich, wie unsere Selbstbilder, die mit der Gegenwart so gut wie nichts zu tun haben, irrelevant und sinnlos sind. Dann tritt unausweichlich eine Leere ein, die leicht verwechselt werden kann mit der Verlassenheit des Kindes, das in der Stille der Nacht um Nahrung oder Ansprache oder Berührung schreit – und keiner kommt. Deswegen kehren die meisten lieber zu ihren gewohnten Gedanken, die wie alte Schlager in ihrem Hirn kreisen, zurück, als sich einer neuen Musik auszusetzen. An diesem entscheidenden Punkt ist es wichtig, die Patientenperson zu ermutigen, beharrlich beim Fühlen zu bleiben, damit sie entdecken kann, dass die Leere eigentlich die Fülle ist. Je weiter die inneren Stimmen von Kinderseele, Über-Ich und spiegelndem Publikum zurücktreten, je näher die Patientenperson sich selbst kommt im Fühlen, desto klarer kann ihre wahre Natur in ihrem ganzen Reichtum in ihre Wahrnehmung treten.

Potentialorientierte Psychotherapie – und danach
Potentialorientierte Psychotherapie kann also eine sinnvolle Einführung sein in die Erkundung der Seinsdimension der Seele als verkörpertes Wesen, wenn der Therapeut sich nicht nur mit dem natürlichen Verlangen der Patientenpersönlichkeit verbündet, ein schmerzliches oder bedrängendes Symptom los zu werden, sondern ihr darüber hinaus, vor allem durch Präsenz und Zuhören, die Chance eröffnet, das Symptom durch beharrlich fühlendes Erkunden als Wegweiser in Richtung einer sich dahinter verbergenden Wesensqualität zu nutzen. Hier endet die Identifikation mit den bevorzugten Rollen und eine Entdeckungsreise beginnt, bei der die an Potentialentfaltung und Selbstverwirklichung interessierte Person jede Erfahrung, sei sie nun lustvoll oder schmerzlich, zur Erkundung des Seins in seinen mannigfachen materiellen Manifestationen nutzt. Ich denke an dieser Stelle an eine Patientin mit einem bösartigen Tumor, die mich in der Nacht, in der sie starb, anrief und sagte: "Ich gehe heute. Ich will nicht gehen, aber meine Kraft ist aufgebraucht. Ich rufe an, weil mich hier keiner versteht. Ich brauche jemandem dem ich das sagen kann: ich bin dankbar für diese Krankheit, denn ich habe in den drei Jahren mit Krebs mehr gelebt und gelernt als in den dreißig Jahren zuvor."

Dieser Weg, so erinnern uns die, die ihn in bewusster Gestaltung ihres Alltags gehen, ist ein Übungsweg, auf dem die übende Person keine Therapie im herkömmlichen Sinne braucht, sondern Wegbegleitung in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen therapeuein: Begleiten, Weggefährte sein, Achten; Heilen im Sinn von Erinnerung an die Ganzheit; dem Höchsten im anderen dienen.