Im Mittelpunkt: Der Mensch?

Erscheinungsjahr:
1997
Autor/Autorin:

Statement zur Podiumsdiskussion am Freitag, 21. Juni 1996
beim 5. Weiterbildungskongress des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT)

Sie haben mich freundlicherweise eingeladen, ein Gespräch zu diesem komplexen Thema in Gang zu bringen. Das ist eine für mich gleichermaßen ehrenvolle wie schwere Aufgabe. Ich will Sie anregen, sich selbst zu fragen: Was ist eigentlich ein Mensch? beziehungsweise Was für ein Menschenbild soll im Mittelpunkt einer Diskussion über qualifizierende Weiterbildung in der Wirtschaft stehen?

Das Menschenbild in alten Kulturen

Das eigentlich Menschliche ist allen Menschen – unabhängig von der kulturellen Ausprägung – wesentlich zu eigen. Im Wesen sind wir alle gleich, während die Unterschiede in Weltanschauung und Lebensart zwischen den Menschen auf unterschiedliche Konditionierung zurückgehen. Um auf die Frage, was das spezifisch Menschliche am Menschen sei, eine Antwort zu finden, die von kultureller Prägung möglichst frei ist, erlaube ich mir, über den Tellerrand europäischer Konditionierung hinauszuschauen und Menschen zu Wort kommen zu lassen, die nicht unter den gleichen Bedingungen aufgewachsen sind wie wir.

Adario, ein Huronenhäuptling, der während des Krieges von Frontenac Ende des 17. Jahrhunderts an der Seite eines Baron de Lahonton gegen die Engländer kämpfte, diskutierte mit seinem Kampfgefährten französisches Strafrecht. Als der ihm erklärte, dass ohne Bestrafung der Missetäter und Belohnung der Guten sich überall in Europa bald Mord und Räuberei ausbreiten würden, verdeutlichte Adario sein Verständnis der Gesetze des weißen Mannes folgendermaßen: "Meine Güte, ihr seid doch jetzt schon bedauernswert genug; und ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr noch elender werden könntet. Welcher Gattung von Kreaturen soll man euch zuordnen, euch Europäer, die man zwingen muss, das Gute zu tun, und die keine andere Veranlassung zur Vermeidung des Bösen als die Angst vor Strafe kennen? Wenn ich dich fragte, was ein Mensch wäre, würdest du mir antworten: ein Franzose; und doch werde ich dir beweisen, dass dein Mensch eher so etwas wie ein Biber ist. Denn der Mensch hat kein Anrecht auf diesen Titel nur wegen seiner Fähigkeit, auf zwei Beinen aufrecht zu gehen, zu lesen oder zu schreiben und tausend andere Beispiele seines Fleißes vorzuzeigen ...." "Wahrlich, lieber Bruder – du tust mir aus tiefster Seele leid; denn ich sehe tatsächlich einen himmelweiten Unterschied zwischen deinem Zustand und meinem. Ich bin Herr meiner Bedingungen und meiner selbst. Ich bin Herr meines Körpers und ich habe die absolute Verfügung über mein Selbst; ich tue, was mir beliebt, ich bin der erste und der letzte meiner Nation, ich fürchte keinen Menschen und bin einzig und allein dem großen Geheimnis unterworfen."..."Dein Körper hingegen, wie deine Seele, sind zur Abhängigkeit von deinem Oberst verdammt, dein Vizekönig verfügt nach Gutdünken über dich, du hast nicht die Freiheit zu tun, wonach dir der Sinn steht; du fürchtest dich vor Räubern und Mördern und vor dem, was die Leute über dich reden – und du hängst ab von einer Unzahl von Personen, die sich nur wegen ihrer Stellung über dich erheben. Ist das wahr oder nicht?" Mir scheint, es ist wahr – wir brauchen nur Oberst und Vizekönig durch Direktor und Vorstand zu ersetzen.

Der Mensch in der Zivilisation

Es wird uns hier von einem von uns sogenannten Wilden vor 300 Jahren ein für unsere Zivilisation kennzeichnendes Dilemma zwischen dem seelischen Auftrag zur Autonomie und der unseligen Neigung zur Normopathie vor Augen geführt.

Ich bin Psychotherapeut. Ich habe mit Menschen zu tun, die an den Einschränkungen in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln leiden, an die sie sich in der ersten Zeit ihrer Entwicklung gewöhnt haben. Diese Gewohnheiten, die in der Vergangenheit dazu dienten, sie vor Verlassenheit, Desinteresse, Verkennung, Überforderung, Schelte, Missbrauch, Gewalt, und so weiter zu schützen, hindern sie in der Gegenwart an einer situationsgemäßen Beziehung zu einer veränderten Umwelt. Meine Aufgabe ist es, sie an die zu erinnern, die sie von Anbeginn waren und jenseits ihrer erworbenen Gewohnheiten sein können.
 Zu mir kommen Menschen, die zumindest soweit mit sich in Kontakt sind, dass sie manchmal leidvoll bemerken, dass sie den Kontakt verloren haben zu denen, die sie einmal waren, bevor sie den sinnlichen und sinnhaften Bezug zur Welt ersetzt hatten durch Bilder von sich selbst in einer selbstgemachten Traumwelt.

Ein Beispiel soll deutlich machen, was ich meine. Stellen Sie sich Boris Becker vor, wie der sich in einem alten Videofilm gegen einen längst vergangenen Stefan Edberg kämpfen sieht. Solange er durch die Socken den Teppich unter seinen Füßen spürt, das Leder riecht und die feste Polsterung des Sessels wahrnimmt, auf dem er sitzt, die Kühle der Coca-Cola-Dose in der linken Hand spürt und die fettige Krümeligkeit an den Fingern der rechten, die auf der Armlehne über einem Schälchen mit Erdnüssen hängt – so lange ist er bei sich und bei Sinnen, und es bestehen Chancen, dass er aus dem, was längst vergangen ist, heute noch etwas lernen kann. Doch bald wird er der durch die Folge bunter Punkte auf einer Mattscheibe erzeugten Illusion erliegen, wird vergessen, wer er heute ist, und sich für den halten, der er einmal war. Dann wird er seinen Puls beschleunigen und angstvoll schwitzen, wird sich, wie damals, darauf versteifen, dass er siegen muss – und wird noch einmal verlieren.

So dürfte es den meisten von uns gehen: Sie sind zwar weitgehend bei Verstand, doch ebenso weitgehend von Sinnen. Sie können sich zwar aus vielen Bildern den Konsens einer Realität erdenken (die Welt der Tatsachen, das heißt der Sachen, die sie tun), doch die Wirklichkeit – die Kraft, die wirkt – können sie nicht mehr wahrnehmen, denn die Sinnlichkeit und die Frage nach dem Sinn sind ihnen abhanden gekommen.
 Was ich beschreibe, nennt man Identifikation durch Konditionierung. 
Als Kinder wissen wir noch, wer wir sind – Ich ist nie festgelegt und immer neu in immer neuer Beziehung. Ich ist immer der, der gerade jetzt und immer neu mit ausgestrecktem Finger auf die Welt zeigt und Da und Du sagt.

Doch unter dem Druck der Bedingungen der Welt, in die wir hineinwachsen – in erster Linie vertreten durch Mutter und Vater – geben wir früh den Kontakt zum Wesen und damit die Möglichkeit einer Identität auf und lernen uns zu identifizieren mit einem Bild von dem, wie man uns haben will und wie wir selbst uns sehen wollen (Image). Dann geht’s uns bald wie jenem Mulla Nasrudin, der rückwärts auf einem Esel sitzend durch sein Dorf galoppiert und, als sein Nachbar Wali ihm zuruft "Wohin so schnell des Weges?", antwortet: "Frag’ nicht mich – frag’ meinen Esel!" (In jener Tradition, aus der die Geschichte kommt, ist der Esel das Gewohnheitstier, dem der Reiter, gebunden an das Vergangene, die Steuerung des Laufs der Dinge überlässt.)

Autonomie

Die jedem Menschen wesensgemäße Gesetzmäßigkeit der Entfaltung eingeborener menschlicher Gaben heißt Autonomie.
 Autonom sind nicht jene, die ständig unter dem Zwang stehen machen zu müssen, was sie wollen, sondern jene, die wissen, was das Leben von ihnen will – was sie sollen, wofür sie da sind, was ihrem Wesen gemäß ist. Die Menschen, die im Dritten Reich bedrohte Menschen versteckten, handelten entgegen der Norm des Zeitgeistes nach diesem inneren Gesetz.

Adario beschreibt autonome Menschen auf seine Weise. Sie sind Herr ihrer selbst und ihrer Bedingungen und sind gleichzeitig ausschließlich dem großen Mysterium unterworfen, jenem wundervollen Zusammenwirken zwischen einem das Chaos immer neu ordnenden geistigen Prinzip, der Schöpferkraft und der Schöpfung. Noch heute beschwören die Indianer der großen Ebenen, die Einheit allen Lebens, wenn sie ihre Gebete beenden mit dem Ruf: "Alle meine Verwandten!"

Wie ich eingangs sagte, unterscheiden sich die Menschen in ihren Gewohnheiten, doch im Wesen sind sie alle gleich. Daher wird es nicht verwundern, dass wir von einem Volk von Aborigines, die sich Die Wahren Menschen nennen, ähnliche Kriterien hören. Sie bemühen sich ständig um Einklang mit der Göttlichen Einheit; sie leben in dem Vertrauen, dass alles da ist, was sie brauchen; und sie bitten darum, dass es ihnen gewährt werde unter der Bedingung, dass es zum eigenen Besten und zum Besten allen Lebens ist.

Normopathie

Die Unterwerfung unter fremde Normen, deren Sinnhaftigkeit nicht mehr hinterfragt wird, nenne ich Normopathie. Ihre zentralen Merkmale sind Normale Depression, Selbstentfremdung und Isolation von der Umwelt. 
Normale Depression ist das Ergebnis der Konditionierung in der sogenannten Zivilisation, die die Kultur verdrängt, wenn ihre Wurzeln – die Kultivation des Bodens und der Kult – aus dem öffentlichen Leben verschwinden.

Normale Depression hat im Prinzip zweierlei Ursachen:
 Erstens: Wir wachsen hierzulande auf in einer kollektiven Zwickmühle nach folgendem Muster: "Sei wie alle anderen und werde etwas Besonderes!" Der Drang, so zu sein wie alle anderen, führt zu Egalisierung, Vermassung und zum Verlust individueller und kultureller Vielfalt; der Drang zur Besonderheit hat den Verlust von Mitmenschlichkeit zur Folge. Zwickmühlen (double-binds) sind eine Voraussetzung des Wahnsinns; die soeben benannte Zwickmühle ist eine Voraussetzung für den von Arno Gruen beschriebenen Wahnsinn der Normalität (Kösel Verlag).

Zweitens: Fünf Würden unterscheiden unseres Wissens den Menschen vom Tier: Der aufrechte Gang, die bildermachende Sprache, das Weinen, das Lachen und das Staunen. Dem entsprechen bei uns in der Erziehung fünf prinzipielle Mahnungen: "Lass dich nicht gehen, halt’ den Mund, hör’ auf zu heulen, lach’ nicht so blöd, und mach’ den Mund zu, sonst siehst du so dumm aus!" Fazit: "Sei kein Mensch – sei normal!" Erziehung zur Normalität mindert die Fähigkeit zur wesensgemäßen Entfaltung des menschlichen Potentials zur Person, durch die das Wesentliche immer gegenwärtig durchtönt (personare). So dem Wesen entfremdet werden wir bestenfalls eine Persönlichkeit, das heißt jemand, der etwas darstellt.[1*]
 Normale Depression befähigt uns, die rechteckige Scheußlichkeit zu übersehen, mit der wir die Erde überziehen, den ohrenbetäubenden Lärm zu überhören, mit dem wir die Stille übertönen, und nicht mehr zu riechen, was zum Himmel stinkt. Normale Depression befähigt uns, je nach Vorliebe für ZDF oder ARD um 19.00 oder 20.00 Uhr unsere tägliche Portion Horror zu konsumieren, um danach zu Bier, Bildung oder Sex überzugehen, als wäre das alles ganz normal.

Normale Depression macht es uns möglich, mit dem Skilift durch sterbende Bäume zu fahren und zu ignorieren, dass wir mit dem damit verbundenen Stromverbrauch zu diesem Sterben beitragen; aus süchtiger Gewohnheit Fleisch in Mengen zu vertilgen, die uns krank machen, und dabei so zu tun als ob wir nicht wüssten, dass täglich Kinder tausendfach verhungern, weil wir ihre Grundnahrungsmittel an unsere Rinder und Schweine verfüttern; und stolz unsere Tibeterteppiche vorzuzeigen, die indische Kinder in 16-Stundenschichten in Dunkelheit und stickiger Luft fürs schiere Überleben knüpfen, unter der Androhung, ausgepeitscht, geblendet oder gar erschlagen zu werden, wenn sie versuchen, nach Hause zu laufen.
 Selbstentfremdung durch Identifikation mit einem Selbstbild (Image) habe ich bereits am erdachten Beispiel Boris Beckers skizziert, und das Phänomen der Isolation dürfte Ihnen aus eigener Erfahrung bekannt sein. Die Beatles haben darauf aufmerksam gemacht, als sie fragten: "All the lonely people, where do they all come from?" und Ärzte, Psychotherapeuten und Gerichte sind ausreichend beschäftigt mit ihren Konsequenzen.

Kollektive Normopathie

Hoimar von Ditfurth wunderte sich, warum die Menschen angesichts dessen, was sie mit sich und ihrer Mutter Erde machen, nicht auf die Straße rennen und schreien. Doch wir schreien nicht. Warum? Wir üben kollektiv Normale Depression.
 Wenn in der deutschen Wirtschaft die Sicherung des Standorts Deutschland die größte wahrgenommene Not ist, dann sind sicher all die wichtigen Dinge zur Qualifizierung der Arbeitskräfte angezeigt, die Sie in den vergangenen Tagen diskutiert haben. Ich habe jedoch noch eine andere Sorge, die ich mit einigen der vielen Herren und wenigen Damen in meinen Seminaren für Führungskräfte teile: Die Sicherung des Standorts Menschheit.
 Wenn wir im Interesse der Sicherung des Standorts Deutschland tatsächlich bald das kleine Auto für jeden Chinesen bauen und im Interesse der Sicherung des Standorts Brasilien oder Kanada weiter die Wälder in dem eingeschlagenen Tempo abholzen, dann lässt sich absehen, wann für die Menschen überall auf der Welt die Luft zu knapp wird zum Atmen.

Es gab eine Zeit, da galt die Brunnenvergiftung gegenüber dem Mord als das schlimmere Verbrechen und eine gute Quelle war Anlass genug, eine Kapelle zu bauen – heute diskutieren wir Grenzwerte normaler Brunnenvergiftung; und die Menschen in Wessobrunn (wo der heilige Thassilo das nach der dortigen Quelle benannte Kloster gründete) und anderswo gewöhnen sich daran, ihr Wasser im Supermarkt zu kaufen, weil das Wasser aus der Quelle so vergiftet ist, dass sie es ihre Kinder nicht trinken lassen wollen.

Sie erinnern sich vielleicht noch, wie unheilvoll die kollektive Unterwerfung unter die nicht mehr hinterfragte Norm wirkte, dass eine Rasse allen anderen überlegen sei. Ich halte die Unterwerfung allen wirtschaftlichen Handelns der Industrienationen unter die Norm des stetigen Wirtschaftswachstums für ähnlich verhängnisvoll – für alle Rassen.

Das einzige in der Natur, was unkontrolliert wächst, ist der Krebs.[2*] Mir scheint, dass die Menschheit unter dem Diktat des Wirtschaftswachstums, das in der unseligen Allianz von Forschung und Technik weder durch ein geistiges Prinzip oder eine wertende Instanz noch durch politischen Willen gesteuert wird, zum Krebs der Erde wird, der sich vermehrt und wächst, bis er den tragenden Organismus Erde auszehrt und mit ihm zugrunde geht. Indianer, mit denen ich darüber sprach, meinten dazu: "Sie wird sich von uns heilen." Eine ähnliche Einschätzung bei uns macht folgender Witz deutlich: Ein Planet antwortet auf die Frage eines anderen, wie es ihm gehe: " Ich habe homo sapiens!" Da meint der andere: "Das ist nicht so schlimm – das vergeht von selbst."

Das Notwendige tun

Was können wir tun, außer mit Hoimar von Ditfurth zu schreien oder mit den Indianern zu beten? Wir können, wenn wir wollen, vielleicht etwas Notwendiges tun, das heißt etwas, wovon wir zumindest hoffen können, dass es die Not wendet. 
Um eine Not wenden zu können, muss man sie erst einmal als solche erkennen. Dazu müsste man leidensfähig und schuldfähig, also auch zurechnungsfähig (accountable) sein. Wenn ich die Herren aus der Wirtschaft, mit denen ich arbeite, frage, welches Anliegen sie zu mir führt, dann zeigt sich, dass viele von ihnen mit den Krebskranken ein Problem gemeinsam haben: Die Unfähigkeit, ein Problem zu haben. Sie sind konditioniert – abgerichtet, wie einer von ihnen sagte – nichts zu fühlen, nichts zu brauchen und alles allein zu schaffen. Sie haben es sehr schwer, anwesend zu sein, etwas mit Sinnen wahrzunehmen – also auch zu spüren, was weh tut und was wohl tut – und dementsprechend wertend zu fühlen, was sie wollen und was sie lieber lassen sollten.

Für manche ist die Nachricht von der Krebserkrankung eines Kollegen ein heilsamer Impuls, der sie vorübergehend aus dem Tiefschlaf des Normalbewusstseins wachrüttelt. Andere fragen sich, ob sie sich ihren Ruhestand so vorgestellt haben wie den eines Leitenden in exponierter Stellung mit Vorbildfunktion, der an seinem letzten Arbeitstag beim Aufräumen seines Schreibtischs darauf mit einem Herzinfarkt zusammenbrach.

Einige äußern als zentrales Anliegen in ihrem Leben, sie würden ihren Kindern gerne eine Welt hinterlassen, in der man leben kann. Wenn ich sie dann frage, wie sie Verantwortung übernehmen und was sie für die Zukunftssicherung ihrer Kinder tun wollen – denn wenn sie nichts tun, wer dann? – dann sagen sie, sie können nichts tun, denn sie seien nur Rädchen im Getriebe. Die Frage, ob ihre Vorgesetzten, die Direktoren und die Herren vom Vorstand, das auch so sähen, bejahen sie. Nur beim Vorstandsvorsitzenden sind sie sich nicht sicher. (Der allerdings bekannte in seiner Rede hier und heute, dass auch er von den internationalen Finanzströmen abhängig sei.) Wenn ich sie dann frage, ob sie sich klar darüber seien, dass sie im Moment Karl Marx das Wort reden, (der behauptete, im kapitalistischen System würden nicht die Menschen die Wirtschaft bestimmen, sondern sie wären bestimmt von ihr), dann schweigen sie, peinlich berührt.

Doch es genügt nicht, peinlich berührt zu sein, und es hilft uns auch nicht weiter, wenn wir auf das Scheitern der Systeme verweisen, die sich auf Karl Marx beriefen. Dieses Scheitern hat uns zumindest gelehrt, dass Hilfe von globalen Lösungen in Form von Befreiung durch Unfreie nicht zu erwarten ist. Das hatten auch viele der 68er Generation verstanden, als sie als Grund für ihre geringe Effektivität den subjektiven Faktor erkannten. Sie mussten scheitern, weil sie motiviert waren vom Hass gegen die Reichen und Mächtigen und nicht von der Liebe zu den Armen und Ohnmächtigen, wie Alexander Neill, der Gründer von Summerhill, einmal bemerkte. So machten sie sich daran, sich mit Hilfe von Psychotherapie, Selbsterfahrung und spiritueller Übung von den Fesseln persönlicher Konditionierung zu befreien.

Wenn es so ist, dass die, die das Geld bewegen, anfangen zu bemerken und daran zu leiden, dass sie selbst vom Geld bewegt werden, dann wird es offenbar notwendig, dass sich die Mächtigen zum Menschsein ermächtigen, indem sie sich daran erinnern, dass sie Menschen sind und sich den zentralen menschlichen Fragen zuwenden: "Wo komme ich her?", "Wo gehe ich hin?" und "Wofür bin ich hier?"

Weiterbildung in menschlicher Kompetenz

Damit sind wir beim Thema des letzten Tages dieser Konferenz, der qualifizierenden Weiterbildung von Führungskräften in der Wirtschaft, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, doch nicht der Mensch als Produktionsmittel, sondern der Mensch, der sich seiner Menschlichkeit erinnert.[3*]

Ich arbeite mit leitenden Angestellten der Allianz Versicherungs-AG in fünftägigen Gruppen von 12 bis 18 Teilnehmern.
 Bisher hat im Lauf von zehn Jahren mehr als die Hälfte der Leitenden der Firma zumindest einmal an diesen Seminaren teilgenommen. Anfangs wurden die Teilnehmer zum Seminar geschickt beziehungsweise mit Nachdruck eingeladen, was die Arbeit wegen der dadurch vermehrten Widerstände erheblich erschwerte. In der Zwischenzeit verbreitet eine Mehrheit – vielleicht auch nur eine meinungsbildende Minderheit – die Nachricht, dass die Seminare beruflich und/oder privat von Nutzen oder gar notwendig seien, sodass die meisten Teilnehmer sich selbst um eine Teilnahme bemühen, vor allem wenn sie zum wiederholten Male kommen. Das erleichtert die Arbeit allein schon deshalb, weil ihre Motivation bewusster und persönlicher ist.

Mein Auftrag ist mehrfach:

  • Verbesserung der Kommunikation mit dem Ziel der effektiven Vermittlung der Unternehmensziele an die Mitarbeiter, der Minimierung oder besser Vermeidung von Kränkung und ganz allgemein der Pflege der Unternehmenskultur.

  • Information und Übung zum Umgang mit Belastungen (Stressmanagement) zur Vorbeugung von Stresskrankheiten.
  • 
Schulung in emotionaler Intelligenz und Kompetenz.

  • Übung in Selbstmanagement mit dem Ziel des mündigen Mitarbeiters.

Häufige Anliegen der Teilnehmer sind unter anderem:

  • Zwanghaftes Denken, Getriebenheit, Schlaflosigkeit, Verspannungen, Kreuz- und Nackenschmerzen.
  • 
Spannungen in Arbeits- und Privatbeziehungen.

  • Loyalitätskonflikte zwischen Arbeit und Familie. 
  • 
Selbstüberforderung (manchmal in Verbindung mit Minderwertigkeitsideen).
  • 
Kränkungen, Existenzängste. 
  • 
Der Umgang mit schwierigen Mitarbeitern (die häufig die Schattenseiten derer verkörpern, die mit ihnen Schwierigkeiten haben, weil sie ihrem Selbstbild entsprechend so auf keinen Fall sein wollen oder dürfen).

  • Loyalitätskonflikte in der Vermittlung von Unternehmenszielen und -strategien an die Mitarbeiter, mit denen der/die Leitende sich selbst nicht voll identifizieren kann.

  • Zweifel an der Sinnhaftigkeit des wirtschaftlich Zweckmäßigen.
  • 
Viele würden die Entwicklung von körperlich verankertem Selbstgefühl und Gelassenheit für ein gutes Ergebnis halten.

Die Veranstaltungen werden als Kommunikationsseminare angeboten. Dabei gehe ich davon aus, dass Kommunikation nicht etwa nur dazu dient, Informationen zu transportieren – diese Aufgabe wird mehr und mehr von sogenannten Medien übernommen –, sondern (im Wortsinn) zur Herstellung von Gemeinschaft.

In meinen Kommunikationsseminaren geht es um die Frage: Wer sagt wem was wie.
 Selbst was gesagt wird, ist in der Regel komplex, mehr als eine Information. So kann die einfache Mitteilung "Ich bin hungrig" als Information, als Klage, Vorwurf oder Drohung gemeint sein oder verstanden werden, je nachdem, wie sie gesagt und gehört wird; und das hängt wiederum vom wer und wem ab, das heißt von den beteiligten Personen und ihrer Beziehung. Diese wiederum ist geprägt von beider Vorgeschichte, in der sie in spezifischen Gemeinschaften gelernt haben, so und nicht anders zu kommunizieren.

Das Wie der Kommunikation ist Inhalt zahlreicher Kommunikationstrainings auf dem Markt, bei denen, zum Teil im Nürnberger-Trichter-Verfahren, vermittelt wird, wie man richtig kommuniziert. Ich ziehe es vor, die Teilnehmer zu sensibilisieren für die Wirkung ihrer Kommunikation und lasse sie im aktuellen Gespräch selbst Kriterien für effektive Kommunikation entwickeln. So merken sie zum Beispiel, ob sie etwas zu sagen haben, daran, ob sie etwas sagen oder ob sie, was sie meinen sagen zu wollen, verschleiern durch Erzählen, Begründen und Erklären.

Früher oder später führt die Frage nach effektiver Kommunikation zur Wahrnehmung der beteiligten Personen Wer und Wem, das heißt, die Seminare gehen in Selbsterfahrungsgruppen über, in denen die Teilnehmer die Fixierung im Charakter (zu deutsch: das Geprägte) erleben können. Sie lernen dabei zu verstehen, wodurch sie im Kontakt mit sich selbst und im Kontakt mit anderen festgelegt sind in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln, und entwickeln Strategien, die vertrauten Grenzen zu erweitern zu vermehrter persönlicher Kompetenz.

Schwerpunkte der Arbeit sind unter anderem:

  • 
Das menschliche Grundbedürfnis nach Beachtung.
  • Übung von Gegenwärtigkeit, Gelassenheit und körperlich verankertem Selbstgefühl, dadurch 

  • Lösung von konditionierten Reflexen und Entwicklung von situationsgemäßer Wahrnehmung und Handlung.

  • Persönliche Kommunikation: Zuhören und etwas sagen.
  • Die Überwindung von Vorurteilen durch Entwicklung von Bewusstheit der eigenen Werte.
  • Stellung beziehen, Ja und Nein sagen lernen.
  • 
Übungen zur Stressreduktion – die alltägliche Trance.
  • Körperübungen für Bandscheibenprophylaxe, Stressreduktion, Vitalität, Widerstandskraft, Selbstgefühl, und so weiter.
  • Der Zusammenhang zwischen Körperausdruck und Persönlichkeit – die nonverbale Kommunikation.

  • Das Suchtproblem: Der vergebliche Versuch, ein wesentliches Bedürfnis durch Ersatz zu stillen. 

  • Klärung von Prioritäten, Bestimmung von Sinn.

Die Frage, ob es in Ordnung sei, auf Kosten der Firma Selbsterfahrung zu treiben, wird vielfältig beantwortet. Einige wenige wittern auch hier den Versuch der Firma, die Mitarbeiter zu verbesserter Ausbeutbarkeit zu konditionieren. Die meisten nehmen die Möglichkeit zur Steigerung der persönlichen Kompetenz dankbar an. Manche sind stolz, in einer Firma zu arbeiten, die das anbietet und finden das Angebot auch legitim im Interesse der Firma. So sagte ein langjähriger und hochrangiger Mitarbeiter, er sei wiedergekommen, um weiterzulernen, es sich gut gehen zu lassen; denn "Wenn es mir gut geht, geht es auch meinen Mitarbeitern und den Kunden gut" und ein anderer: "Zu verhindern, dass ein Mitarbeiter, in dessen Entwicklung die Firma so viel investiert hat, zu früh durch Alkohol oder Herzinfarkt verloren geht – das rechnet sich."

Im Mittelpunkt: Der Mensch?

Nein! Im Mittelpunkt: das Gemeinwohl der Erde. 
Ich freue mich, wenn meine Arbeit einzelnen Führungskräften gut tut, und ich bin einverstanden, wenn sie nicht nur die zweckmäßigen, sondern auch die sinnvollen Ziele eines Unternehmens unterstützt. Ich hoffe allerdings auch, dass sie einzelne, die irgendwann einmal richtungsweisend das Geschehen bestimmen werden, sensibilisiert für die Frage, was wirklich sinnvoll ist, und sie ermächtigt, ihren Werten gemäß zu handeln.

Ein Beispiel soll klarmachen, was ich meine: Stellen Sie sich eine amerikanische Firma Ende der Sechzigerjahre vor, die Plastikbehälter produziert. Die Wirtschaft boomt, vor allem im Bereich der Rüstungsindustrie, die Kapazitäten sind ausgelastet, Gehälter, Sozialleistungen, und so weiter sind überdurchschnittlich – wirtschaftlich gesehen scheint alles in Ordnung. Doch irgendetwas stimmt nicht: Die Mitarbeiter machen Dienst nach Vorschrift, melden sich häufiger krank, unter den Bewussteren nimmt die Neigung zur Kritik zu, und die Ergebnisse entsprechen nicht den scheinbar günstigen Ausgangsbedingungen. Ein Trainer wird gerufen, der das Problem analysieren soll. Er spricht mit den Menschen aller Ebenen, von der Putzfrau bis zum CEO, und sorgt dafür, dass sie miteinander sprechen. Dabei kommt heraus, dass eine meinungsbildende Minderheit zutiefst beunruhigt ist darüber, dass das beste Produkt der Firma dazu verwandt wird, Napalm nach Vietnam zu transportieren. Die Produktion dieser Behälter ist zwar sehr zweckmäßig im Sinne der militärischen Ziele, der Sicherung von Arbeitsplätzen, der Erhöhung der Prämien, und so weiter, die Zweckbestimmung (die gründliche Zerstörung eines Paradieses) scheint vielen jedoch so sinnlos, dass sie in Konflikt geraten zwischen ihrer Konditionierung zu tüchtigen Arbeitstieren und ihrem wesentlichen Bedürfnis nach sinnvollem Dienst an der Gemeinschaft allen Lebens. Fazit: Die Verträge mit der Air Force werden gekündigt, die Firma erschließt neue Märkte, die Mitarbeiter arbeiten mit Begeisterung und die Firma blüht auf. Ein Märchen? Ja, ein menschliches Märchen. Es war einmal ...

Einige Verantwortungsbewusste in Wirtschaft und Politik beginnen an den überall sichtbaren Konsequenzen unseres Tuns zu leiden, einige wenige davon besinnen sich, dass sie Verantwortung übernehmen und zur Einsicht politischen Willen gesellen müssen.

Wir müssen begreifen, dass eigennütziges Wirtschaften auf Kosten der wirtschaftlich unterentwickelten Länder und der Natur global gesehen zum Scheitern verurteilt ist, und entschieden danach handeln.

Die viel diskutierte Alternative shareholder value und stakeholder value ist keine Alternative. Wir müssen, wenn wir noch etwas retten wollen, neben den Dividenden der shareholder und dem gesicherten Wohlstand der stakeholder – auch in der qualifizierenden Weiterbildung – die größere Gemeinschaft allen Lebens auf der Erde im Auge behalten und ins Zentrum unseres Bemühens rücken. 
In Time Magazine las ich kürzlich einen sachlich gehaltenen Bericht über den Niedergang des rituellen Lebens in Afrika, der mich tief beunruhigt hat. Die sogenannten Naturvölker haben überall auf der Welt Kulturen entwickelt, in denen das Leben im Einklang mit der Natur im Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns stand und dieser Einklang in Ritualen gefeiert wurde. Ob wir davon noch etwas von ihnen lernen, bevor wir mit unserem sogenannten Fortschritt, mit dem wir uns von der menschlichen Aufgabe so weit entfernt haben, erst sie und dann uns ausgerottet haben?

Ob wir noch etwas retten können? Ich vermag es nicht zu sagen. Ich weiß jedoch, dass wir alle – Sie wie ich – verwickelt sind. Unsere Väter und Großväter mussten sich die Frage gefallen lassen, was sie im Dritten Reich getan haben. Sollen wir, wie sie, unseren Kindern sagen, wir haben das alles nicht gewusst? Der Report Global 2000 wie die alle zwei Jahre erscheinenden Berichte des Club of Rome, und so weiter sind – wahrscheinlich bereits online – uns allen zugänglich.
 Was wollen wir unseren Kindern sagen?

 

[1*] Der Dichter Jorge Luis Borges sagte dazu (über Shakespeare): Instinktiv hatte er sich schon angewöhnt, so zu tun, als sei er jemand, damit seine Niemandsverfassung nicht entdeckt würde ... vor einer Ansammlung von Leuten, die so tun, als hielten sie ihn für jenen anderen.

[2*] Die Krebszelle ist eine, die ihre Fähigkeit zur Kommunikation mit dem Zellkern, der die Information über ihren wesensgemäßen Auftrag zur Differenzierung enthält, und zu den Nachbarzellen und zum Gesamtorganismus verloren hat.

[3*] Vier Wochen nach dieser Weiterbildungstagung beschlichen mich Zweifel, ob ich in den Augen der Veranstalter wohl das Thema verfehlt habe. Während ich wähnte, ich sei eingeladen worden, um etwas über das Menschliche zu sagen, ernüchterte mich ein Freund: Der Mensch als Mittelpunkt? Nein! Der Mensch als Mittel. Punkt!