Familienaufstellungen – Versuch einer Kritik, aber auch einer Würdigung vom psychoanalytischen Gesichtspunkt aus

Erscheinungsjahr:
2006
Autor/Autorin:

Vortrag gehalten bei Überregionale Weiterbildung in analytischer Psychosentherapie in München am 16.11.2003, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Obwohl ich davon ausgehe, dass jeder von Ihnen zumindest vom Hörensagen weiß, was Familienaufstellungen nach Bert Hellinger sind, beginne ich mit einer kurzen Definition dieses therapeutischen Verfahrens zwecks einer Einführung in die Thematik und einer ersten Orientierung. Eine vollständige, geschweige eine auf allgemeine Zustimmung basierende Definition kann man ohnehin nicht zustandebringen im Hinblick auf die inzwischen sich entwickelnden Variationen des Verfahrens und angesichts der unterschiedlichen Schwerpunkte bei den einzelnen Leitern von Familienaufstellungen.

Gunthard Weber und Diana Drexler, die zu den am meisten akzeptierten heutigen Vertretern der Familienaufstellung gehören, gaben letztes Jahr in der Zeitschrift Psychotherapie im Dialog folgenden kurzen geschichtlichen Überblick.

Das Familienstellen wurde von Bert Hellinger seit den 80er Jahren entwickelt und breitete sich im deutschsprachigen Raum und in den letzten Jahren auch international schnell aus. Seine Wurzeln habe es im Psychodrama Morenos und im Mehrgenerationenansatz der Familientherapie. Nachdem Bert Hellinger in den USA mit Vertretern der Familientherapie und in Deutschland mit der Skulpturarbeit in Kontakt kam, habe er Einsichten mit Vorgehensweisen aus der Skriptanalyse und der Aufstellungsarbeit zu einer leiter-orientierten Gruppenkurztherapie verdichtet.

Es geht um Gruppenveranstaltungen mit 12 – 24 Teilnehmern und circa 10 teilnehmenden Beobachtern. Einer der Teilnehmer, meistens der therapeutisch hilfesuchende Patient, stellt eines der für ihn wichtigen Systeme (in der Sprache der systemischen Therapie also vorwiegend die Ursprungsfamilie oder die gegenwärtige Familie oder aber auch berufliche Systeme) auf in der Art, dass für jedes der Mitglieder der aufzustellenden Familie ein Vertreter aus den anwesenden Seminarteilnehmern bestimmt wird.

Im Gegensatz zum Psychodrama, wo diese Vertreter direkt oder indirekt aufgefordert werden, in die jeweilige Rolle hinein zu schlüpfen, wird hier erwartet und verlangt, dass der Stellvertreter einfach die Position (in gewisser Hinsicht wortwörtlich die häusliche Position auf der Bühne) der zu repräsentierenden Person (Vater, Mutter, und so weiter des Patienten) übernimmt und dann die aufgrund dieser seiner Positionierung oder aufgrund der durch den Patienten oder den Leiter veranlassten Positionsveränderungen entstehenden guten oder schlechten Gefühle und Körpersensationen auf Befragen angibt, also ob er (der Stellvertreter) sich dabei wohl oder unwohl fühlt. Er, der Stellvertreter, weiß ja auch kaum etwas über die Anamnese des Patienten bis auf die minimalen, am Anfang der Veranstaltung vom Leiter erfragten wichtigen Ereignisse wie Tod, Abort, Verlust, Scheidung von wichtigen Angehörigen des Patienten. Das Überraschende für den Analytiker, der zum ersten Mal so etwas mitmacht oder ein solches Video sich ansieht, ist, dass hier weder vom Patienten, noch vom Leiter, noch von den Stellvertretern anamnestische Daten genauer nachgefragt und noch weniger darüber diskutiert werden. Man sucht nicht nach psychogenetischen oder psychodynamischen Zusammenhängen. Allerdings sucht man intensiv doch nach Schuld oder Schmerz erzeugenden Ereignissen, die meistens unbewusst verdeckt bleiben und dadurch die bei dem Verfahren der Familienaufstellung berühmten Familiengeheimnisse ausmachen. Täter und Opfer sind zunächst unsichtbar.

Die Hinweise, dass hier doch etwas vorliegt, dass ein Geheimnis noch nicht gelüftet wurde, erhält man jedoch nicht so sehr über sprachliche Äußerungen, sondern durch die Befindlichkeit, durch die Spannungen und affektive Körpermanifestationen der Stellvertreter, welche durch die räumlichen Beziehungen, Nähe und Distanz zwischen den Positionsinhabern und insbesondere durch die im Laufe der Aufstellung stattfindenden oder notwendig werdenden Bewegungen ausgelöst werden.

Diese Bewegungen, diese Änderungen der räumlichen Relation zu den anderen beteiligten Personen oder das Entstehen von Grüppchen, die sich zueinander bewegen oder voneinander sich abwenden und so weiter, wird aufgrund des Befindens der Betreffenden (erfragt vom Leiter) in Gang gesetzt. Oder häufiger, diese Bewegungen werden einfach vom Leiter veranlasst, der den einen dahin schiebt und den anderen in die andere Richtung zieht und so weiter. Dieses Verändern und das Geschiebe erscheinen den Nichteingeweihten (und dazu gehörte ich auch bis vor kurzem) oft als eine willkürliche Polypragmasie oder ein Aktionismus ohne Sinn. Dem sei aber, so Hellinger und die Familienaufsteller überhaupt, nicht so. Es gehe um ein Experimentieren. Der Leiter versucht die Positionierungen herauszufinden, in denen die Betreffenden sich wohler fühlen, in denen ein Affektausbruch zustande kommt, in denen Spannung oder Entspannung durch diese eben neue Positionierung hervorgerufen werden und so weiter. Es ist so, wie wenn man ein Puzzle zu lösen beziehungsweise zusammenzustellen versucht. Die kurzen Bemerkungen des Leiters bei diesen Veränderungen des Gesamtbildes erscheinen dem Nichteingeweihten suggestiv, aber oft kommen auch spontane Äußerungen der Stellvertreter, dass sie sich wohl oder schlecht oder entleert oder ärgerlich und so weiter fühlen, die echt wirken.

Die Tatsache, dass diese spontanen Erlebnisse und Äußerungen der Stellvertreter oft, wie sich später herausstellt, der geschichtlichen oder gegenwärtigen Realität der repräsentierten Personen (die ja dem Stellvertreter unbekannt sind) entsprechen, hat zur Entstehung dieses esoterischen Nimbus der Methode und der in der Öffentlichkeit teilweise noch bestehenden Idealisierung ihres Erfinders Bert Hellinger beigetragen. Diese nicht nur von streng empirisch orientierten Psychologen und Soziologen, sondern auch von vielen anderen psychotherapeutischen Schulen nicht akzeptable Mythenbildung ist der eine Grund für die zunehmende Kritik gegen das Verfahren. Der andere bezieht sich auf die Person von Bert Hellinger selbst beziehungsweise die Art der Präsentation und die verdächtige Vermarktung.

Der Soziologe Oliver König beschreibt die kritischen wie apologetischen Reaktionen auf Hellinger beziehungsweise die Reaktionen auf diese Raktionen, also Verteidigungsreden, Richtigstellungen und persönliche Offenbarungen, zum Beispiel in Form von Danksagungen (König, S. 510) und anderen Bezug nehmend auf Leserbriefe zu einem kritischen Artikel in Psychologie Heute 1998. Dort findet man in Bezug auf die Person von Bert Hellinger eine Mischung von kritischen Charakterisierungen (autoritär, entmündigend, feindseliger Therapiestil, Verkünder letzter Wahrheiten, dogmatisch) und apologetischen (Annehmen, ein tief religiöser Mensch, ein Mensch mit großem und weitem Herzen), die die Spannungsbreite der Reaktionen nochmals verdeutlichen (König, S. 511). Dogmatisch wirkt Hellinger auch bei der Verkündung der von ihm behaupteten Ordnungen des Lebens und der Liebe – obwohl sonst seine Annahmen über die starken familiären Bindungen in vielen der modernen Bindungstheorien enthalten sind.

Einen Höhepunkt erreichte die negative, kritische Welle gegen die Person von Bert Hellinger in dem bekannten langen Artikel in der ZEIT vor circa zwei Monaten (verfasst von Martin Buchholz), ein Artikel, der mit einer Auswahl von Bildaufnahmen des Großmeisters in Aktion gespickt ist, die ihn tatsächlich in einem recht ungünstigen Licht präsentieren. Hellinger sei – so der Haupttenor dieser Reportage – in seiner Haltung nicht nur arrogant, überheblich, pastoral und in seinen Interventionen nicht nur dogmatisch, suggestiv, willkürlich, uneinfühlsam, sondern letztlich auch gefährlich – so habe zum Beispiel eine Patientin aufgrund der sie vernichtenden Deutung von Hellinger, die sie aber akzeptierte, Selbstmord begangen.

Weniger dramatisierend und emotionalisierend, aber trotzdem eindeutig scharf kritisch, fällt auch das Urteil der Fachkollegen Bert Hellingers von der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Forschung aus, die im Februar dieses Jahres eine Stellungnahme zum Thema Familienaufstellungen im Internet setzten, die heute noch jedem zugänglich ist:
Die Familienaufstellung nach Bert Hellinger, heißt es dort, stamme zwar aus wichtigen Bestandteilen der systemischen Therapie (Familienrekonstruktionsarbeit und Familienstrukturen), ihre heutige Praxis gebe aber dem Vorstand der Gesellschaft Anlass zu deutlicher Kritik und zu Befürchtungen bezüglich einer möglichen Gefährdung von Klientinnen und Klienten. Diese Stellungnahme erschien dieser Fachgesellschaft offensichtlich unter anderem deswegen erforderlich, weil die Familienaufstellung sich als eine systemische Therapie repräsentiert.

Bert Hellinger, heißt es weiter in der Stellungnahme, postuliere die Existenz vorgegebener Grundordnungen und Hierarchien und vertrete seine Konzepte, Interpretationen und Interventionen immer wieder mit einer Absolutheit, die die Autonomie der Klientinnen und Klienten enorm einschränke. Gleichzeitig entziehe er sich einer ernsthaften und kritischen Diskussion seiner Vorgehensweisen und scheine sich lieber von einer gläubigen Anhängerschaft bewundern zu lassen.

Viele systemische Grundprinzipien werden vernachlässigt, so etwa die Neutralität und Allparteilichkeit gegenüber Personen und Ideen. Darüber hinaus seien Familienaufstellungen in Großgruppen mit dem Ziel des Publikumseffektes ohnehin unethisch und abzulehnen. Nicht Bert Hellinger als Norm setzender Guru, sondern ein breiter wissenschaftlicher Diskurs von Fachleuten innerhalb der Systemischen Therapie und Beratung sollte die Methodik der Familienaufstellung definieren.

Dennoch, weder solche sonst so effektive mediale Kritik, wie die von Martin Buchholz in der ZEIT, noch wissenschaftliche Stellungnahmen scheinen den Publikumserfolg von Bert Hellinger zu beeinträchtigen. Das ist aber nicht der Grund, warum ich mich entschlossen habe, mit dieser Thematik und mit dem Phänomen Bert Hellinger mich zu beschäftigen – solche Moden sind in der Postmoderne nicht selten und werden von Soziologen in mehr kompetenter Weise, als ich es kann, untersucht und analysiert. Was mich vielmehr motiviert hat, ist die Tatsache, dass viele mir persönlich bekannte und gut ausgebildete Psychotherapeuten, die sogar psychotische Patienten in Behandlung haben, neben ihrer sonstigen Tätigkeit auch Familienaufstellungen bieten und teilweise von den Möglichkeiten der Methode sehr angetan sind.

Besonders überrascht wurde ich darüber hinaus, als vor circa drei Jahren eine Gruppe von solchen Kollegen und einigen hinzugekommenen Sozialwissenschaftlern mich aufsuchte und fragte, ob ich Interesse hätte, als Außenstehender ihre Arbeit in Familienaufstellung mit ihnen zusammen zu beobachten und zu diskutieren. Sie wären interessiert zu hören, was ich vom psychoanalytischen Standpunkt aus denke, wie ich womöglich dieses Verfahren psychoanalytisch verstehe. Einige Sitzungen, die dann stattgefunden haben, waren für mich sehr interessant und informationsreich.

Wir konnten das beabsichtigte Ziel nicht weiter verfolgen, aber nicht etwa, weil die Psychoanalyse nichts dazu zu sagen hätte, sondern aus dem einfachen Grund, dass die Betreffenden selbst sich sehr uneinig in ihren Ansichten über die Familientherapie waren. Ich habe aber den Kontakt aufrechterhalten und mir auch Gedanken über die positiv zu beurteilenden Anteile dieser Methode gemacht. Hinzu kam auch die Tatsache, dass mehrere Patienten von mir zum Teil etwas verschämt nachträglich mir anvertrauten, dass sie eine Familienaufstellung bei sich machen ließen. Dies lässt übrigens die Angabe von Martin Buchholz, dass zur Zeit in Deutschland wahrscheinlich 2000 Familienaufsteller am Werke sind, doch glaubhaft erscheinen, zumal auch andere psychoanalytische Kollegen mir von Familienaufstellungen bei ihren Patienten berichteten.

Es gibt Menschen, bei denen das Familienaufstellen zum wöchentlichen Programm gehört, um einen interessanten Abend zu verbringen, der unter günstigen Bedingungen nur fünfzehn Euro Teilnahmegebühr kostet!

Auf der anderen Seite gab es Kollegen, die mir berichteten, sie haben Patienten gesehen, die nach einer Familienaufstellung psychotisch wurden. Da bin ich aber vorsichtig. Es gibt Patienten von mir, die ein Stück Therapie bei mir hatten und trotzdem einen psychotischen Rückfall erlitten. Böswillige Beobachter könnten hier auf eine Kausalität zwischen Therapie und Psychose schließen!

Aber jetzt zu der Hauptfrage:
Wie ist die Familienaufstellung zu verstehen und einzuschätzen?

Statt dass ich Ihnen meine Hypothesen in Bezug auf das, was ich in Videos gesehen habe, in systematischer Weise vorführe, möchte ich Ihnen einige meiner spontanen Assoziationen und Bilder verraten, welche ja indirekt auf solche potentielle Hypothesen hinweisen. Übrigens distanzieren sich viele der mir bekannten Familienaufsteller in der letzten Zeit, wenigstens inoffiziell, von Bert Hellinger, was die Art seines Auftretens betrifft, sie glauben jedoch weiterhin an die großen Möglichkeiten der Methode, gerade auch bei Psychose-Patienten.

Assoziationen:
1. Wo ist der Pope?
Als ich vieles gesehen und gehört hatte über das Suchen nach dem noch nicht aufgedeckten Geheimnis, dessen Aufdeckung die sofortige Lösung bringen und den Patienten befreien würde, hatte ich zunächst Assoziationen mit Krimiserien, Erwecken der Neugierde bei der Suche nach XY und entsprechende Erhöhung der Einschaltquoten.

Noch bösartiger war aber meine folgende Assoziation. Die bezog sich auf ein zumindest 60 Jahre altes Bild aus dem großen Markt in Athen der 40er Jahre. Es wurde dort auf dem Markt ein Spiel angeboten (was, wie ich jetzt erfuhr, dem in Deutschland bekannten und von der Polizei verbotenen Spiel mit den Hütchen entspricht), bei dem man angeblich ganz schön Geld verdienen könne.

Der Meister sitzt vor einem Tablett und lässt eine Münze, einen Knopf, einen Würfel, den sogenannten Popen mit undurchsichtigen kleinen Kappen abwechselnd zudecken. Diese vier oder fünf Kappen wurden mit großer Geschwindigkeit unter seinen sehr geschickten Fingern getauscht. Der Spieler (wie sich herausstellte, das Opfer), der einen bestimmten Betrag zur Teilnahme am Spiel hinterlegen musste, sollte, wenn die Hände des Meisters ruhig blieben, sagen, wo denn der Pope sei. Wo ist der Pope, hier, dort oder doch wieder zurück?

Das Interessante ist, dass neben diesem Meister und in der Gruppe von Neugierigen, die sich dann ansammelten, drei oder vier Komparsen als angeblich fremde, unbeteiligte Beobachter standen, die das Opfer durch kurze Nebenbemerkungen in eine bestimmte Richtung beeinflussten. Das Ganze war aber so geschickt arrangiert, dass der Betreffende, also das zukünftige Opfer, zunächst Erfolg hatte und dadurch motiviert war, noch einmal, jetzt mit einem größeren Betrag, ins Spiel einzusteigen, um dann selbstverständlich zu verlieren und zwar wieder unter dem Einfluss der Nebenpersonen, die ihn in die falsche Richtung beeinflussten.

Nun wird in der Familienaufstellung nicht der Pope, sondern das Geheimnis in der Familie gesucht. Und der Grund, warum ich auf diese zugegebener Weise bösartige Assoziation aus der Kindheit kam, war, dass mir bei verschiedenen Aufstellungen das endliche Auffinden des Geheimnisses gelegentlich als ein suggestiv unter Zuhilfenahme der Anwesenden herbeigezauberter Erfolg erschien. Nachdem ich aber mehrere Aufsteller kennengelernt habe und bei allen die Überzeugung gewonnen habe, dass sie keine Betrüger sind – ich glaube dies auch in Bezug auf Bert Hellinger, der trotz aller seiner schwierigen Ecken einen ehrlichen authentischen Eindruck macht – habe ich die mit dieser Erinnerung zusammenhängende Hypothese der Geldmacherei fallen gelassen.

2. Die hysterische Inszenierung
Als ich einmal bei einer der Großveranstaltungen (im Video) die zahlreichen Teilnehmer gesehen habe, die gebannt auf die Worte und Haltung des großen Meisters auf der Bühne starrten, assoziierte ich den großen Pariser Neurologen Charcot aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, und zwar wieder in einem Bild: Dazu muss ich folgendes berichten:
Vor 23 Jahren erhielt ich in einem Brief zwei Theaterkarten, die ich nicht bestellt hatte, für das TAT, ein damals avantgardistisches Theater in Frankfurt. Im begleitenden Brief bat man mich um Entschuldigung, dass man mich erst nachträglich darüber informieren wollte, dass im Programm eines jetzt laufenden Theaterstückes mit dem Titel Hysterie große Teile aus meinem eben erschienenen Buch über Hysterie übernommen und zitiert wurden. Als Entlohnung erhielt ich die Theaterkarten.

Es ging um die Inszenierung eines Stückes einer südamerikanischen Gruppe, das so gut war, dass es bei der Biennale in Venedig den ersten Preis erhielt. Die Bühne wurde während der Gesamtvorführung in zwei Teile geteilt, rechts wurde die Salpetrière, und zwar eine Intensivstation des berühmten Pariser Psychiatrischen Krankenhauses dargestellt, auf der linken Seite war die Villa vom großen Chef Charcot zu sehen, wo öfters abends berühmte Opernsängerinnen für ein erlesenes Publikum weibliche Opernarien sangen. Morgens bei der Chefvisite boten die hysterischen Patientinnen alles was sie nur konnten, sie dehnten ihren Körper zu einem hysterischen Bogen oder sie lagen auf dem Boden und schrieen oder sie umarmten den Professor und so weiter. Links wurden die Stimmen der Opernsängerinnen immer schriller und schriller, sodass man zum Schluss nicht links von rechts richtig unterscheiden konnte.

Das Beste war aber der große Professor: unberührt und erhaben, in beiden Fällen majestätisch, langsam sich bewegend, befahl er das Aufhören der Symptomatik bei der einen Patientin oder (beschäftigte?) sich mit Handlung bei den Sängerinnen auf der linken Seite. Er war selbst sozusagen die höchste Form einer hysterischen Inszenierung eines großartigen Neurologen, der sogar offenbar auch Sigmund Freud für sechs Monate fasziniert hatte, als er, also Charcot, mit Hypnose reihenweise wie in einem Familienaufstellungsseminar hysterische Patientinnen heilte. Ein großes Publikum von Studenten, aber auch sonst von der Pariser Gesellschaft war dabei. Nun, Sie wissen, dass ich ein großer Bewunderer des hysterischen Modus der Konfliktverarbeitung bin, sodass dies alles keineswegs nur negativ oder ironisch zu verstehen wäre.

Dennoch, auch diese Assoziation, die ja die Deutung der gesamten Familienaufstellung und des gesamten Brimboriums bei den Riesenveranstaltungen als eine hysterische Inszenierung und anschließende hysterische Epidemie nahe legt, war mir ebenfalls nach langem Überlegen nicht so überzeugend.

Außerdem, auch wenn ein großer Teil dessen, was wir dabei beobachten können, tatsächlich induzierte hysterische Inszenierungen sein sollten, so what? Ich halte viel von Hysterie und von der hysterischen Begabung und von der Fähigkeit des potentiell hysterischen Patienten (modernerweise heißt es histrionisch), halbbewusst oder unbewusste Zusammenhänge intuitiv zu erfassen und sie in Szene zu setzen. Dahinter steht aber immer eine sehr ernstzunehmende Angelegenheit, eine schmerzliche Realität.

Kurze zusätzliche Information: Vor einigen Jahren ist in einer Volksschule in der Nähe von Washington bei einer Abschlussfeier der Schüler aus der letzten Klasse und der Abschiednahme folgendes passiert: Während der Vorführung des Stückes fiel aus Versehen einer der Schüler auf den Boden, sodass er auf die Nase schlug und blutete. Man hat ihn aufgerichtet und irgendwie konnte das Spiel weiterlaufen, aber nach drei oder vier Minuten fingen mehrere Schüler an, im gefüllten Saal umzufallen, sie wurden halb bewusstlos, man vermutete irgendwelche giftigen Gase. Es gab großen Alarm, die Polizei kam. 35 Kinder mussten ins Krankenhaus eingeliefert und nach ein paar Stunden entlassen werden. Es handelte sich also um eine moderne hysterische Epidemie.

Das wichtigste kommt aber jetzt erst. Zwei gewiefte Assistenten haben die Gelegenheit sofort beim Schopf ergriffen und haben daraus eine Doktorarbeit gemacht. Sie haben die 35 Kinder gründlich untersucht und eine gleich große Gruppe von Kindern, die nicht umgefallen sind, ebenfalls in Bezug auf Anamnese und mit einigen Tests untersucht. Der Vergleich der zwei Gruppen ergab, dass die Kinder, die umgefallen sind, signifikant häufiger Trennungen, Verluste und andere schwerwiegende Ereignisse in ihrer Familie erlebt hatten!

Also, auch wenn ein Teil der Vorkommnisse auf der Bert-Hellinger-Bühne hysterische Phänomene sein sollten, sie stehen doch in Zusammenhang mit tatsächlich stattgefundenen Traumatisierungen und Ereignissen in der Familie.

3. (Griechische Tragödie)
Meine dritte Assoziation führte weit zurück bis zur Antike, bis zum griechischen Theater, das bekanntlich eine der wichtigsten Wurzeln solcher therapeutischer Verfahren wie die Familienaufstellung darstellt.

In beiden Fällen geht es nicht nur um die sprachliche, sondern auch um die räumliche, szenische Darstellung verwickelter Beziehungen von Familiendramen, wobei oft auch ein oder mehrere Geheimnisse im Hintergrund eine große Rolle spielen und wo die Darsteller (die Schauspieler oder die Stellvertreter) nach Möglichkeit nicht ihre eigenen Probleme in den interaktionellen Prozess mit hineinbringen sollen (vergleiche die entsprechende Aufforderung von Hellinger an die Stellvertreter und die andere Seite im antiken Theater: die Tatsache, dass die Schauspieler Masken getragen haben.

Schließlich – und dies erscheint mir besonders bemerkenswert – hat auch im antiken Theater die Positionierung der Akteure und ihre Bewegung im Raum eine Rolle gespielt, die ja in der Familienaufstellung eines der Hauptprinzipien darstellt: Die Positionen der Stellvertreter und insbesondere die räumliche Relation der Positionen und das im Laufe der Aufstellung sich verändernde Muster der einzelnen Positionen ist die Hauptbedingung, um sozusagen experimentell das Affekte auslösende und Spannung erhöhende, aber dann auch andererseits das Entlastende und – um mit Bert Hellinger zu sprechen – die richtige Ordnung zu finden.
Übrigens: über die Ordnungen der Liebe und des Lebens im Metaphysischen oder Theologischen, wie sie Hellinger versteht, will ich mich hier nicht ausbreiten. Sie sind für mich als subjektive und mehr oder weniger dogmatisch behauptete Glaubenssätze zwar zu respektieren, aber sie können ohne weiterführende, auf Erfahrung begründete Untermauerung nicht allgemeinfähige Akzeptanz beanspruchen.

Von Respekt spreche ich trotzdem, weil wir alle unsere direkten und indirekten, bewussten oder unbewussten Annahmen in Bezug auf gewisse als gut, gelungen, gesund zu bezeichnende Situationen, Entwicklungen, Regelungen haben, so zum Beispiel ich selbst, wenn ich in meinem Bipolaritätsmodell diejenigen Lösungen als gelungen, dialektisch und gesund betrachte, die zu einer Integration und zu einer Befriedigung sowohl von selbstbezogenen, als auch objektbezogenen Tendenzen führen.

4. Forcierte Symbolisierung
auf dem psychosozialen Feld und die Suche nach dem Geheimnis.
Wenn ich engagierte, tüchtige Leiter bei Familienaufstellungen beobachte, so fallen mir Ähnlichkeiten mit der Arbeit eines Bildhauers, eines Musikers, eines Malers, überhaupt eines Künstlers auf. Zwar wirkt manchmal die Emsigkeit, mit der temperamentvolle Leiter (und nicht kühle Naturen wie Hellinger) die Stellvertreterpositionen immer wieder ändern und mal dies und mal jenes ausprobieren, wie ein übertriebener oder künstlich dramatisierender Aktionismus; insgesamt gewinnt man aber wenigstens bei den ernstzunehmenden Vertretern den Eindruck, dass es dabei um echte authentische Bemühungen, um die Suche nach optimalen Lösungen geht, um die Herstellung einer befriedigenden Gestalt in einem für das Leben der Betreffenden wichtigen Puzzle.

Gerade dieses gleichzeitig ernste und spielerische Herumprobieren zusammen mit der intensiven Suche nach dem Geheimnis in der Eltern- und Großelterngeneration erzeugt auch die Spannung bei den Zuschauern, die mit der Spannung bei einem Krimi vor der Aufdeckung des Täters erinnert, wobei in beiden Fällen eine Süchtigkeit, ein immer mehr von dem selben haben wollen, sich einstellen kann.

Dies alles,
zusammen mit den zum Teil realistischen, zum Teil desinformierenden Berichten über Bert Hellinger, könnte den falschen Eindruck entstehen lassen, er sei eigentlich nicht für den Patienten als solchen interessiert, ihm ging es nicht an erster Stelle um das Wohl des Patienten, sondern um die Bestätigung der etwas esoterisch anmutenden Ordnungen der Liebe oder, wie es bei ihm in den letzten Jahren zu hören ist, um die Bewegungen der Seele.
Dies entspricht nicht meinem Eindruck: Im Gegenteil, insbesondere auch beim psychotischen Patienten erlebe ich Hellinger als sehr umsichtig, einfühlsam und sehr darauf bedacht, den Patienten zum Beispiel mit kurzen Bemerkungen narzisstisch zu stärken.

Ich zitiere kurz aus einem Transkript: Der Hellinger sagt zu dem jungen schizophrenen Patienten ganz am Anfang: Du bist ganz schön mutig, Dich dem hier so zu stellen. Oder in einem anderen ähnlichen Fall, ebenfalls einem jungen Patienten, halb ernst, halb scherzhaft: Du scheinst hier der Schlaueste zu sein, ein Schlauberger (dabei indirekt andeutend, sie beide, der junge Patient und Hellinger selbst seien die Schlauberger hier, also eine Art symbiotische Omnipotenz à la Kahn).

Auch wenn kurz danach Sätze kommen, die den Patienten etwas abrupt wieder auf den Boden der Realität bringen, so hat man das Gefühl, dass auch dies gutwillig geschieht und sozusagen als eine erste Vorübung zu dem programmatisch mehr oder weniger dann erfolgenden Schaukeln zwischen den Bindungen zu anderen Personen oder aber zu sich selbst, zu der eigenen Selbsteinschätzung – Schaukeln innerhalb des Gegensatzes selbst und Fremdidealisierung versus Selbst- und Fremdablehnung.

Also das oft vermittelte Bild eines überheblichen, eigensinnigen, indirekt sadistischen, rücksichtslosen Hellingers, der die Patienten mit seiner Autorität und seinen Bemerkungen zur Verzweiflung oder sogar zum Selbstmord bringen kann, entspricht nach meinen Erfahrungen und Informationen nicht der Realität, obwohl manchmal, selten, einiges in die Richtung Verdächtiges nicht von der Hand zu weisen ist.

Hat die Familienaufstellung eine relevante therapeutische Wirkung? –
und wenn ja, auf welche Weise kommt diese therapeutische Wirkung zustande?
Die oben aufgezählten spontanen Assoziationen von mir zur Thematik der Familienaufstellung entsprechen direkt oder indirekt vier Hypothesen zur Erklärung des Phänomens Familienaufstellung: Die erste Hypothese, es ginge um Betrug, Geldmacherei, Scharlatanerie, medienwirksame Selbstdarstellung, et cetara, habe ich schon vorhin, wenigstens in Bezug auf die ernstzunehmenden Leiter und Teilnehmer verworfen.

Die zweite Hypothese, die Familienaufstellung biete in exzellenter Weise geeignete Bedingungen zur Herstellung von hysterischen (histrionischen) Inszenierungen, innerhalb derer zwar eine gewisse Entladung von aufgestauten Affekten und eine Quasiaufdeckung stattfindet, wobei aber das Eigentliche, also der intrapsychische Gegensatz, der Konflikt oder das Dilemma weiterhin verdrängt bleibt und somit kein entscheidender Fortschritt erreicht wird – diese meine Kritik ist nur beschränkt richtig. Die mit Geheimnislüftung, aber auch ohne sie indirekt stattfindende Einsicht in die ungeheure Macht der Familienbindungen (zum Guten und zum Schlechten) ist meines Erachtens nicht zu leugnen und macht den gewichtigsten therapeutischen Faktor aus.

Die Ausdruckgebung des Familiendramas, sogar gerade auch in den vorangehenden Generationen und gerade ohne viele Worte, sondern nur durch die Positionierung und die Bewegung, ermöglicht in ähnlicher Weise wie in der antiken Tragödie eine sonst nicht ohne weiteres zu erreichende Partizipation und Katharsis und unter Umständen auch bleibende Einsicht.

Die Ernsthaftigkeit und das authentische echte Engagement des Leiters, aber auch die tragende sorgende teilnehmende Gruppe, ermöglichen dem Patienten eine neue Beziehungserfahrung, die gerade durch die Direktheit der vorwiegend räumlichen Nähe und Distanz die Verfälschungen und Desinformationen und Heucheleien der Sprache vermeidet und ihm in ähnlicher Weise, wie bei der uns bekannten Psychosenbehandlung mithilfe des Handlungsdialogs eine Lockerung der psychotischen Dilemmatik ermöglicht. Der Patient macht also die Erfahrung, dass er in einer intensiven Beziehung teilnehmen kann (mithilfe der Vertretung und der Stütze des Leiters im Rücken) ohne deswegen seine Autonomie und seine Selbstidentität zu verlieren.

Diese letzte Hypothese und Position ist selbstverständlich meine eigene, sicher überoptimistische Sichtweise auf der Grundlage des eigenen Psychose- und Psychosentherapiekonzeptes. Sie vernachlässigt viele wichtige Annahmen und Handlungsweisen der Familienaufsteller, die durch diese Hypothese nicht gedeckt werden. Gemeint sind hier insbesondere drei Sachverhalte:

In der Familienaufstellung suchen alle, man könnte fast sagen, manchmal wie besessen, nach dem Geheimnis. Ich dagegen versuche vielmehr den Konflikt, das Dilemma und eine geeignete Formulierung, die es in seiner spezifischen Form bei dem Patienten erfasst, zu finden. Man könnte zwar behaupten, das Geheimnis und seine Aufdeckung enthalten implizit den Konflikt beziehungsweise das Dilemma. Ich hielte es aber für sinnvoller und effektiver, wenn Schuldgefühle, daraus resultierender Hass und Selbsthass und insbesondere die Ambivalenz eindeutiger zur Sprache kämen.

Gegen Ende jeder Familienaufstellung und sobald der Leiter glaubt, die sogenannte Lösung gefunden zu haben, formuliert er bestimmte Sätze, die einige der Stellvertreter
und dann die fast regelmäßig auf die Bühne geholten Patienten selbst aussprechen müssen. Es sind eindeutig suggestive Sätze, etwa im Stil: Du bist meine Mutter, ich ehre und liebe Dich, aber mein Leben gehört mir und ich habe mein Leben für mich zu leben. Deine Probleme habe ich nicht zu tragen.

Dabei handelt es sich zwar immer um solche Sätze, die gerade die oben angedeutete Problematik und Dilemmatik (Selbstbezogenheit, Objektbezogenheit) berühren, sodass man mir sagen könnte, ich sollte mich damit zufrieden geben, dem Beobachter – und mir – erscheint aber höchst unwahrscheinlich, dass solche tiefer gehenden Probleme mit zwei, drei suggestiven Sätzen ein für allemal zu erledigen wären.

Es ist kaum vorstellbar, dass eine einmalige Familienaufstellung, auch wenn sie im idealen Fall die geschilderte Ausdrucksgebung und die Einsicht in das Problem (mit und ohne Geheimnis) ermöglicht, in der Lage ist, das Auftreten psychotischer Lösungen entbehrlich zu machen. Eine parallel laufende Behandlung erscheint mir unbedingt erforderlich. Zu diskutieren ist nur die Frage, ob eine oder mehrere Familienaufstellungen des Patienten förderlich in dieser Behandlung sein können. Übrigens haben Psychosetherapeuten, die gleichzeitig Familienaufstellungen machen, den Eindruck geäußert, dass die psychotischen Patienten vorwiegend als Vertreter in solchen Familienaufstellungen profitieren können. Dass sie selbst ihre Familie aufstellen, kommt selten vor, ist schwierig und kann auch zu Komplikationen führen. Das sind aber offenbar zunächst Erfahrungen von einzelnen Therapeuten.

Insgesamt erscheint es mir trotz der oben ausführlich geschilderten negativen Aspekte und Gefahren nicht berechtigt, Familienaufstellungen schon a priori als indiskutabel abzulehnen; im Gegenteil erscheint mir als ziemlich wahrscheinlich, dass sowohl allgemein als auch bei Psychosen die Förderung des symbolischen Erfassens des bis dahin nicht anschaulich Fassbaren gefördert werden kann.

In meiner Prognose in Bezug auf die Methode würde ich eher dazu tendieren, zu sagen: Auch wenn die Mode der dramatischen großen Veranstaltungen oder der gewohnheitsmäßigen Familienaufstellung im Stil des Happenings in absehbarer Zeit vielleicht abnimmt und dann verschwindet, so wird, hoffe ich, ein positiver Einfluss dauerhaft zurückbleiben, und zwar nicht nur im Sinne eines in der breiten Öffentlichkeit geweckten Interesses für Familiendynamik und transgenerationelle Zusammenhänge, sondern auch für die Fachleute, also für uns alle Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, als Anreiz zur Ausnutzung und weiteren Entwicklung von Techniken, die die anschauliche Symbolisierung intrapsychischer und interpersoneller Vorgänge fördern, was ja, wie wir wissen, gerade für unsere psychotischen Patienten von großem Nutzen sein kann.