Potentialorientierte Selbsterfahrung – wozu?

Erscheinungsjahr:
2007
Autor/Autorin:
Psychoanalyse studiert die Entwicklung der Persönlichkeit am erinnerten Kind, Verhaltensforschung durch unmittelbare Beobachtung der Mutter-Kind-Beziehung. Der englische Psychoanalytiker John Bowlby hat die Ergebnisse beider Schulen in der Bindungstheorie integriert. Danach entwickeln wir unsere Lebenskunst, das heißt die Art und Weise, wie wir
  • Beziehung gestalten,
  • mit Stress umgehen,
  • Resistenz gegen Krankheit und
  • Resilienz bei Krankheit entwickeln,
  • Rhythmen leben (Wachen-Schlafen, Leistung-Erholung, Sitzen-Gehen, Mahlzeiten und so weiter), 
  • Zuversicht und Humor entfalten, 
  • ein kohärentes Selbstbild und
  • Wertvorstellungen entwickeln, die über die gängige Moral hinausgehen,

weitgehend in den ersten zwei Lebensjahren in Abhängigkeit von der Qualität der Beziehung zur Mutter (Bedingungslose Zuwendung, Präsenz, Freude, verlässliche Erreichbarkeit, Toleranz für Kontaktabbruch, Wiederaufnahme des Kontaktes und so weiter). 

Die Bindungstheorie wird durch die moderne Hirnforschung inzwischen weitgehend bestätigt. Diese zeigt, dass die rechte Großhirnrinde, der die für die Lebensbewältigung so wichtige Affektkontrolle obliegt, ab der Schwangerschaftsmitte einen Wachstumsspurt beginnt und bis zum 18. Lebensmonat zu 80 % ausgereift ist, während die Entwicklung der linken, für die Symbolbildung zuständigen Hemisphäre erst später einsetzt. Das heißt, dass wir leben lernen, bevor wir die Welt in Bildern abbilden, denken und sprechen können. 

Unsere Motivation zur erfüllenden Lebensgestaltung in Beziehung ist zwar genetisch vorgegeben; doch was vom Entwicklungspotential tatsächlich verwirklicht wird, hängt davon ab, was durch mitmenschliche Beziehung bestätigt wird.

Diverse Formen der Zuwendung, wie Dasein bestätigende Beachtung, Halt und Schutz, Verlässlichkeit, Rhythmus und Anerkennung von Leistung, aktivieren genetische Programme (in Klammern) zur Freisetzung von diversen Botenstoffen – Endorphin (Wohlsein), Adrenalin (Kampf und Flucht), Oxytocin (Bindung), Serotonin (Schlaf- und Leistungsbereitschaft) und Dopamin (Tatendrang) –, die zur aktiven Lebensgestaltung motivieren. 

Viele Menschen haben mangels angemessener Zuwendung in der frühen Kindheit nicht gelernt, sich selbst zuzuwenden, um zu fühlen, was sie brauchen. Sie leiden an einer sogenannten Alexithymie. So bezeichnen wir die Unfähigkeit, die gegenwärtigen, mit Sinnen wahrnehmbaren Erregungsmuster, durch die sich Bedürfnisse kundtun, angemessen zu deuten; das heißt, diese Menschen können nicht fühlen. 

Die Alexithymie ist eine Folge der Normalen Depression. Depression ist die mit Muskelkraft vollzogene Tätigkeit, durch die wir mittels Drosselung der Atmung und körperlicher Verspannung der Muskulatur Erregung dämpfen, Bedürfnisse abspalten, Gefühle verdrängen sowie Emotionen unterdrücken und zur Bewältigung unterschiedlicher Fallangst uns zusammenreißen, uns festhalten, uns oben halten, alles für uns behalten, uns zurückhalten und uns raushalten. 

Die Normale Depression ist der Zustand der Bevölkerung in den Industrienationen, in denen die alten Kulturen, die der Entfaltung des Potentials zum Menschsein im Einklang mit der Natur dienten, zunehmend abgelöst werden von einer einseitig auf Profitsteigerung ausgerichteten Zivilisation. Der Anblick der gestressten, besorgten, missmutigen, grimmigen, traurigen und verzweifelten oder gar ausdruckslosen Gesichter, die uns am Ende der Rolltreppe in jedem beliebigen Kaufhaus nicht anschauen, ist eine klinische Demonstration der Normalen Depression. 

Die Normale Depression – und mit ihr die Alexithymie – geht auf die landläufige Konditionierung in der frühen Kindheit zurück. Seit vor über hundert Jahren der paranoide deutsche Arzt Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber feststellte, Schreien sei gut für die Lungen, deutsche Kinder müssten frühzeitig Pünktlichkeit lernen und man dürfe sie nicht verwöhnen, damit sie nicht verweichlichen, füttern Mütter, die nichts falsch machen wollen, ihren Säugling nach der Uhr und nicht nach seinem Bedürfnis. Ein solches Kind lernt erstens, sich inkompetent zu fühlen, weil das, was es kann – Schreien – nichts bewirkt; zweitens, Bedürfnisse für sich zu behalten oder gar zu unterdrücken, denn es kommt ja ohnehin keiner; und drittens, sich zusammenzureißen oder gar tot zu stellen, weil mehrmals am Tag zu schreien einfach zu weh tut an Zwerchfell und Kehlkopf. 

Schockerlebnisse wie Verlassenheit (Verlust der Mutter, Krankenhausaufenthalt), Gewalt, sexueller Missbrauch und so weiter, die mangels Halt nicht abgeschüttelt werden können, lassen das Kind erstarren im Trauma. 

Mit der Erziehung kommt die Trotzphase – die Zeit, in der die Erwachsenen anfangen, sich der freien Entfaltung der Eigenart der Kinder zu widersetzen, wogegen die sich ihrerseits zur Wehr setzen. 

Es gibt eine Reihe von Potentialen, durch die wir Menschen uns von den anderen Tieren etwas unterscheiden. Dazu gehören der aufrechte Gang, die Bilder machende Sprache, das Weinen, das Lachen, die Wissbegier, das Staunen und die Selbstbewusstheit. Dem gegenüber stehen entsprechende Erziehungsprinzipien: "Lass dich nicht gehen!", "Halt den Mund!", "Hör auf zu heulen!", "Lach nicht so blöd!", "Frag nicht so viel!", "Mach den Mund zu, sonst siehst du so doof aus!" und: "Wer glaubst du denn, dass du bist?". Unter dem Strich ist die Botschaft: "Sei kein Mensch – sei normal!" Und so entwickeln wir das, was Viktor von Weizsäcker, der Urvater der Psychosomatik, als Normopathie bezeichnete: Die Ausrichtung von Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln an den Normen der anderen auf Kosten der Entfaltung unserer Autonomie – des Gehorsams gegenüber dem uns eingeborenen Gesetz, das uns sagt, was das Leben von uns will. 

Ohne Zuwendung, die der Bedürftigkeit, dem absoluten Angewiesensein und der völligen Offenheit dem Leben gegenüber entspricht, wird die Ausschüttung von Motivation fördernden Botenstoffe vermindert und ersetzt durch Suchtgewohnheiten (Image-, Arbeits- und Geltungssucht, Attraktivitäts- und Jugendlichkeitswahn, Fernseh-, Spiel- und Computersucht, Beziehungs- und Sexsucht, süchtiges Jogging und so weiter) und/oder Suchtsubstanzen (Zucker, Koffein und andere Stimulanzien, Nikotin und Alkohol, Medikamente und andere weiche, Designer- und harte Drogen).

Sucht ist der vergebliche Versuch, ein Grundbedürfnis mit Ersatz zu stillen. Der Versuch, mangels mitmenschlicher Beziehung Motivation durch Suchtgewohnheiten und Konsum von Suchtsubstanzen zu steigern, führt zu seelischen und körperlichen Mangelerscheinungen, Störungen der Befindlichkeit und schließlich zu Depression, Burnout, chronischem Erschöpfungssyndrom, Allergien, Bandscheibenleiden, Bluthochdruck, Herz- und Hirninfarkt, Krebs und anderen psychosomatischen Krankheiten. 

Die ärztliche Behandlung dieser Erkrankungen führt allzu oft nur zur Beseitigung der Symptome. Viele Patienten klagen, dass ihnen über die vortreffliche medizintechnische Behandlung der Symptome hinaus das Gespräch fehlt. 

Manche von ihnen sehen in der Krankheit die Notwendigkeit und die Chance, nicht nur zu überleben, sondern sich darüber hinaus zu fragen, welches Leben von ihnen gelebt werden will. Durch Potentialorientierte Selbsterfahrung lernen sie 
  • Haltemuster erkennen, durch die sie vertraute, Potentialentfaltung behindernde Gewohnheiten in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln aufrecht halten.
  • Gegenwart wahrnehmen und Gegenwärtigkeit entwickeln, um die Resignation zu überwinden, nur noch mit dem Wahrscheinlichen zu rechnen, und Möglichkeiten zu erkennen.
  • ihre Sinne gebrauchen.
  • fühlen, das heißt, dem mit Sinnen Wahrgenommenen eine persönliche Bedeutung geben, und entscheiden, was zu viel ist und was fehlt.
  • Groll über Vergangenes lassen und
  • Aggression – die Fähigkeit, sich gehen zu lassen – entfalten: hin zu dem, was nährt und nützt, weg von dem, was hindert und schadet und gegen das, was bedrohlich ist. 
  • wahrnehmen, dass Zuwendung gut tut und dass es bei einer Fülle erreichbarer Bezugspersonen all das gibt, was bei denen, auf die sie in früher Zeit angewiesen waren, immer gefehlt hat. 
  • sich auf mitmenschliche Beziehung einlassen;
  • Beziehungen pflegen, die die Entwicklung der beteiligten Personen fördern, und Beziehungen beenden, die Entwicklung behindern.
  • tun, was getan sein will, und fassen, was sich überlebt hat.
  • das Leben – einschließlich des Sterbens – nehmen, wie es ist.